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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Radio ein, um die Nachrichten zu hören, und dann erreichten wir auch schon den Bahnhof. Wir parkten in einer Seitenstraße. Die Rollen des Koffers schabten über den Asphalt, Christabel lief noch einmal zurück, weil sie ihre Handtasche mit den Zigaretten im Wagen vergessen hatte.
    Und schließlich ging alles sehr schnell: Der Zug nach Berlin wartete bereits am Bahnsteig, als wir am richtigen Gleis ankamen. Mein Vater nahm mich kurz in seine Arme, dann verschwand er mitsamt seinem Gepäck hinter den verspiegelten Scheiben des ICEs. Wir winkten und sahen dem Zug nach, ohne zu ahnen, was uns unmittelbar bevorstand. Ich war einfach zu verwirrt, weil ich mich immer wieder fragte, was es war, was da zwischen Marian und mir ablief. Dabei hätte ich der unheilvollen Spannung, die in der Luft lag, bloß ein bisschen mehr Beachtung schenken müssen.
    Es geschah auf dem Weg zurück zum Auto, mitten in der Bahnhofshalle. Christabel war gerade von einem Sicherheitsmann der Deutschen Bahn darauf hingewiesen worden, dass das Rauchen innerhalb des Gebäudes verboten war, als sie über uns herfielen. Aus dem Nichts tauchten sie auf.
    Geflügelte Pferde.
    Drei.
    Kreischend flogen sie über die Köpfe der Menschen hinweg und stürzten sich auf uns. Ich war viel zu geschockt, um zu reagieren. Schwarz flackernde Schwingen durchschnitten die Luft über unseren Köpfen, mächtige Hufe streiften den Hut einer alten Dame. Die Nüstern der Pferde waren geweitet, ihre Augen glühten und ihre Reiter schwangen Peitschen aus Dunkelheit über ihren Zylindern. Die Spannweite der Pferdeflügel nahm fast die gesamte Breite der Halle ein.
    Scheiße, dachte ich. Mir sträubten sich die Nackenhaare beim Anblick der Wesen. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich merkte, dass ich vor Schreck die Luft anhielt, und musste mich zwingen weiterzuatmen.
    Marian und Christabel schienen die Lage längst erfasst zu haben. Blitzschnell rissen sie mich mit sich in den schmalen Raum zwischen einem Bäckerstand und einem Fahrkartenautomaten. Binnen eines Sekundenbruchteils verließen die Schatten der beiden ihre Körper, die mit ausdruckslosen Gesichtern bei mir zurückblieben, und stellten sich den Reitern entgegen.
    Dieses Mal versuchte Marian gar nicht erst, mit ihnen zu reden, es wäre ohnehin zwecklos gewesen, denn das hier waren keine Späher, das erkannte selbst ich.
    Es war ein Angriff.
    Fast synchron duckten sich Marian und Christabel, machten sich bereit zum Sprung in einen Kampf, den außer uns niemand im überfüllten Bahnhof bemerken würde. Menschenmassen strömten an uns vorbei, ohne die Schattenwesen zu beachten. Auch die geflügelten Pferde machten sich bereit und senkten die Köpfe. Dann begann das Gefecht. Von zwei Seiten griffen sie uns an und Marian und Christabel flogen ihnen entgegen.
    Einer der Reiter fixierte mich mit seinem Raubvogelblick. Seine Bewegungen waren abgehackt wie die eines Roboters. Marian schwang sich hinter ihm in den Sattel und zwang ihn mit einem Griff, sich von mir abzuwenden. Christabel holte derweil zum Schlag gegen das zweite Monstrum aus, während eine Frau mit Kinderwagen einfach durch die beiden hindurchging. Peitschen knallten, Tritte fanden ihr Ziel. Vor mir verschwammen die Kämpfenden zu einem flackernden Knäuel. Wie eine Gewitterwolke hingen sie in der Luft. Und die Spannung, die von dieser Wolke ausging, erinnerte tatsächlich an das Zucken sich entladender Blitze. Gefolgt vom Donnerschlag.
    Ich hörte, wie Christabel etwas rief. Ein weiterer Peitschenknall, Marian stöhnte auf, ich zuckte zusammen. Das dritte Schattenpferd sprang zwischen seinen beiden Artgenossen hervor. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen seines Reiters, als er mich in meiner Ecke entdeckte. Er hob die Hand mit der Peitsche, die über seinem Kopf züngelte wie eine Giftschlange, holte aus. Weder Marian noch Christabel schienen es zu bemerken. Ich war ganz allein.
    Zitternd presste ich mich an die Wand des Bäckerstandes und erregte damit bereits das Aufsehen einiger Vorübergehender. Sicherlich wäre es klug gewesen, wenn ich mich ebenfalls von meinem Schatten getrennt hätte, aber das schaffte ich bisher nun mal nicht. Und bestimmt hätte es auch etwas genützt, um Hilfe zu rufen, damit Christabel und Marian auf mich aufmerksam wurden. Doch stattdessen duckte ich mich und wartete, bis ich das sirrende Geräusch der Peitsche in der Luft hörte. Dann rannte ich los.
    So schnell ich konnte, sprintete ich zwischen den Hufen des Pferdes

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