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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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einfach nicht. Trotz allem, was ich in den letzten Tagen erlebt hatte, das hier fühlte sich schlicht falsch an. Selbst mein Vater blickte mittlerweile stirnrunzelnd auf die Schattengestalt unserer alten Haushälterin, die er ja nicht einmal sehen konnte. Als ob sein Bauchgefühl ihm ebenso wie das meine mir sagte, dass bei uns etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Seine Bewegungen jedenfalls wurden zunehmend fahrig.
    Umso erleichterter war ich deshalb, als wir eine Dreiviertelstunde später alle mit unseren echten Körpern im Auto saßen, um meinen Vater zum Bahnhof zu bringen. Der Verkehr auf der Ruhrallee staute sich, doch zur Abwechslung übernahm Christabel, die vorn auf dem Beifahrersitz saß, die undankbare Aufgabe, meinen Vater zu beruhigen, dass er seinen Zug schon nicht verpassen würde. So hatten Marian und ich auf der Rückbank Gelegenheit, einander anzuschweigen.
    Gleich nach dem Einsteigen war Marian, der die letzten Stunden allein im Arbeitszimmer gehockt und sich dort anscheinend vor mir versteckt hatte, so nah an die Tür herangerutscht, dass sich der Griff des Fensterhebers in seinen Oberschenkel bohrte. Dabei schaute er betont aus dem Fenster. Als befürchte er, allein den Kopf in meine Richtung zu wenden, würde schon zu viel Aufmerksamkeit bedeuten. Nach der Hälfte der Strecke entschied ich mich schließlich dazu, sein kindisches Verhalten nicht länger zu dulden.
    »Na, immer noch beleidigt wegen des Essens?«, fragte ich in bestem Plauderton.
    Obwohl er mir den Rücken zugedreht hatte, meinte ich in der Spiegelung der Scheibe zu erkennen, wie sich sein Gesicht zu einer Grimasse verzog. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, eine Sekunde lang verkrampfte er sich. Dann entspannten sich seine Schultern plötzlich und er wandte sich lächelnd zu mir um.
    »Ehrlich gesagt hatte ich so etwas in der Art befürchtet. Unser finnisches Essen ist im Ausland nicht gerade beliebt.«
    »Weil es echt ekelig ist«, sagte ich. »Man könnte auch ein verwesendes Tier servieren, anstatt fünf Stunden daran herumzukochen. Wahrscheinlich würde man den Unterschied nicht einmal bemerken.«
    Marian grinste und sah mir nun doch zum ersten Mal seit letzter Nacht wieder in die Augen. Es war ein Blick, in dem weder Verzweiflung noch Wut oder Verlangen lagen. Tatsächlich entdeckte ich nichts als Freundschaft im Grün seiner Iris. Trotzdem war es ein Blick, der mir gefiel, weil die Dinge plötzlich wieder so viel unkomplizierter waren.
    »Allein dafür, eure Gesichter zu sehen, als ich den Brotlaib aufgeschnitten habe, hat sich die Mühe gelohnt«, sagte er und lachte.
    »Dann wusstest du, dass wir es nicht essen würden?« Auch ich kicherte jetzt.
    »Klar. Dass ausgerechnet Kasimir einen Bissen versuchen würde, hätte ich ihm wirklich nicht zugetraut. Dazu gehört schon einiges.«
    »Ich wollte eben nicht unhöflich sein«, schaltete sich mein Vater in das Gespräch ein und überfuhr eine rote Ampel. Die übrigen Verkehrsteilnehmer schickten uns ein wütendes Hupkonzert hinterher, während ich mich in meinem Sitz zurücklehnte.
    »Aber du persönlich stehst auf schleimiges Essen, ja?«, fragte ich.
    Marian zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht wählerisch. Vor fünf Jahren haben mein Pflegevater und ich einen Trip durch die kolumbianische Wildnis gemacht. Wenn du dich mal einen Monat lang von gegrillten Riesenspinnen und Tausendfüßlern ernährt hast, findest du nichts mehr ekelig, glaub mir.«
    »Riesenspinnen?« Ich schüttelte mich.
    »Bernhard hat ein Faible für Extremsport und Survival-Touren in den Ferien. Schon als ich noch klein war, hat er mich oft mitgenommen. Wildwasser-Rafting in Südamerika, Paragliding in Neuseeland, Klippenspringen in Griechenland, das volle Programm eben. Zwei-, dreimal im Jahr ziehen wir los und suchen uns eine neue Herausforderung«, erklärte Marian. »Wir testen unsere Grenzen aus, verstehst du?«
    »Nicht so richtig«, sagte ich und dachte daran, wie Marian sich an das Seil des Zeppelins geklammert hatte. »Aber es erklärt zumindest einiges. Du bist also süchtig nach dem Adrenalinkick.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er leise, während sich sein meergrüner Blick in meinen brannte. »Ich will nur wissen, wie weit ich gehen kann.«
    »Ach so«, flüsterte ich und nun war ich diejenige, die sich abwandte, um aus dem Fenster zu starren. Bäume, Plakatwände, Laternen und Häuser glitten daran vorbei, eine Wolke schob sich vor die Sonne, mein Vater schaltete das

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