Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
weit.«
    »Wohin gehen wir?«, wiederholte ich und spürte, wie Panik sich um meine Kehle legte.
    Doch Marian wandte nicht einmal den Kopf. Stattdessen trat er in einen besonders schäbigen Hinterhof und legte mir beide Hände auf die Schultern, als ich erschrocken zurücktaumeln wollte.
    »Das ist es«, flüsterte er und sah mir endlich in die Augen. Wild und herausfordernd. »Stell dich der Angst.«
    Ich wollte wegrennen, denn was ich da vor mir sah, wollte mir schier den Verstand rauben, doch Marian hielt mich zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf das andere Ende des Hofes, an dem eigentlich das nächste Haus beginnen sollte. Ich hatte mit Müllcontainern und einer schäbigen Ziegelmauer gerechnet. Doch dort war … nichts. Gar nichts.
    Kilometerhoch türmte es sich vor uns auf, dunkel, undurchdringlich und reglos. Das Nichts! Schon aus der Ferne hatte es Furcht einflößend ausgesehen, doch jetzt … Ich hatte das Gefühl, vor einem Tsunami zu stehen, dessen Welle jeden Augenblick über mir zusammenschlagen und mich unter sich begraben würde. Es war so unfassbar groß! Und zugleich nichts. Mein Verstand rebellierte, während die Angst mich lähmte und meine Zunge trocken an meinem Gaumen kleben ließ.
    »Sieh es dir an«, flüsterte Marian und lockerte langsam seinen Griff. »Ich weiß, dass du es kannst. Komm mit mir.«
    Schweiß rann über meine Stirn. Marian machte einen Schritt vor und noch einen, bis er schließlich unmittelbar vor der Wand aus Dunkelheit stand. Dann streckte er mir seine Hand entgegen.
    »Nein!«, entfuhr es mir und ich wollte schon wieder zurückweichen, doch ich tat es nicht. Stattdessen stand ich einen Augenblick lang einfach nur da. Das Nichts erinnerte mich an ein tosendes Unwetter, obwohl es vollkommen still vor uns lag. Ja, ich fürchtete mich, aber gleichzeitig spürte ich tief in meinem Innern noch etwas anderes, kaum mehr als ein schwaches Glimmen. War es … Faszination?
    »Komm«, wiederholte Marian.
    Sollte ich es wagen? Hierbleiben und Angst haben oder … Mein Körper nahm mir die Entscheidung ab, gerade so, als hätte ich keine Wahl. Plötzlich lag meine Hand in Marians. Er lächelte, als ich unbeholfen nach vorn taumelte, und dann war ich bei ihm. Marian und ich. Nebeneinander vor dem Abgrund, ein seltsam vertrautes Gefühl.
    Noch immer zitterte ich. Ich würde sterben, wenn ich mich nur wenige Zentimeter weiter nach vorn bewegte, das ahnte ich.
    »Furcht und Mut sind gar nicht so gegensätzlich, wie wir oft meinen. Im Grunde wird das eine aus dem anderen geboren, nicht wahr?«, sagte ich, ohne zu wissen, woher die Worte stammten, die ich noch nicht einmal gedacht hatte, bevor sie über meine Lippen gekommen waren.
    »Ja«, sagte Marian. »Das klingt nach dir.«
    »Finde ich nicht.«
    Wir starrten in das Unfassbare.
    »Doch, absolut. Es klingt nach der, die du einmal warst, Flora. Nach der Flora, die nicht damit aufgewachsen ist, Verantwortung zu übernehmen, und dazu gezwungen wurde, mit sieben erwachsen zu werden.« Ich hörte ein Lächeln in seiner Stimme. »Das mochte ich an dir, dass du Risiken eingegangen bist und nicht stundenlang nachgedacht hast, bevor du etwas getan hast. Dein Mut und deine Spontanität, damit hast du mich oft auf andere Gedanken gebracht. Mit dir war so vieles … leichter.«
    Ich runzelte die Stirn. Bisher hatte ich mir meine Seele als chaotische, adrenalin-süchtige Person vorgestellt, doch nun sickerte die Erkenntnis langsam in meinen Verstand: Wer von vielen Gefahren umgeben war, der musste sich entscheiden, ob er sich seiner Furcht auslieferte oder sich ihr entgegenstellte. Denn Furcht wuchs aus sich selbst heraus. Unaufhaltsam. Man hatte lediglich die Wahl, ob man es zuließ oder beendete. Und meine Seele hatte anscheinend zu Letzterem geneigt.
    Neben mir streckte Marian die Finger aus, bis ihre Kuppen das Nichts beinahe berührten. »Die Vorstellung, dass ich nur wenige Muskeln bewegen müsste, um von ihm verschlungen zu werden«, murmelte er fasziniert und irgendwie sehnsüchtig. »Ich bräuchte mich nur ein paar Zentimeter vorzulehnen und alles wäre vorbei.«
    Ich fuhr herum. »Sag mal, spinnst du? Bist du lebensmüde, oder was?«
    Marian legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. »Nein«, sagte er. »Natürlich nicht. Aber manchmal ist es schwer. Ich komme oft hierher, um nachzudenken. Es ist schwer zu erklären, doch das Nichts hilft mir, die Dinge klarer zu sehen.«
    Ich nickte, obwohl ich nicht so recht

Weitere Kostenlose Bücher