Stadt aus Trug und Schatten
Schattenreiter zwar gefährlich, aber nicht allwissend sind. Danach wird es dir besser gehen, glaub mir.«
Die Kutsche rollte durch die Straßen der Stadt wie eine Glasmurmel durch ein Labyrinth. Wir hatten die Vorhänge vor den Fenstern bis auf einen Spalt zugezogen, doch die Kälte drang trotzdem zu uns herein. Obwohl ich den Mantel fest über meiner Brust zusammengezogen hatte, fröstelte ich. Und je näher wir dem Palast kamen, umso mehr zitterten meine Hände. Die ganze Zeit über spürte ich Marians Blick auf meinem Gesicht, obwohl ich es vermied, ihn anzusehen. Verlegen zwirbelte ich die Haarsträhne in meinem Nacken.
»Im Buckingham-Palast«, begann ich schließlich, ohne recht darüber nachgedacht zu haben. »Sollte da nicht eigentlich die Queen wohnen?« Ich lachte nervös, während sich die Kutsche merklich bergauf quälte. Wir mussten also bald da sein.
Marian musterte mich einen Augenblick lang belustigt. »Die Queen ist zwar eine Wandernde, doch in dieser Welt lebt sie sehr zurückgezogen in einem Cottage an der Ecke Oxford Street und Champs-Elysées, drüben in Mylchen. Sie züchtet Rosen«, erklärte er.
»Aha«, sagte ich und beschloss, die nächste Zeit besser meinen Mund zu halten.
Der Buckingham-Palast schälte sich aus der Dunkelheit wie ein Juwel aus dem Samt seiner Schatulle. Hell erleuchtet lag der lang gezogene Bau da, überzogen von dem festlichen Schimmern unzähliger Lampen. Vor dem Haupteingang standen Kutschen in einer Schlange, in die auch wir uns einreihten. Laternen säumten unseren Weg, auf dem wir langsam vorwärtsrollten. Als würden sie einer unterbewussten Choreografie folgen, spuckten die Kutschen nacheinander Frauen und Männer in Abendgarderobe und Kostümierung auf den Kies. Einige trugen Löwenköpfe aus Pappmaschee, andere hatten ihre Gesichter über und über mit seidigen Pfauenfedern verhüllt. Taft raschelte und Diamanthalsketten glitzerten durch die Nacht, während die Paare sich durch das Eingangsportal schoben.
Und zwischen ihnen entdeckte ich den ersten Schattenreiter. Er reichte die Zügel seines Pferdes an einen Pagen weiter, bevor er den Palast betrat, und trug den Schnabel eines Raubvogels, der seine abgehackten Bewegungen unterstrich. Ein Schaudern durchlief mich bei seinem Anblick und ich prüfte unwillkürlich den Sitz meiner Maske, doch obwohl wir beinahe hinter ihm standen, bemerkte der Reiter uns nicht. Trotzdem legte sich eine Faust aus Eis um meinen Magen, die auch dann noch blieb, als er schon längst aus meinem Blickfeld verschwunden war.
Kurz darauf waren wir an der Reihe.
Marian zeigte dem Pagen etwas, was wie eine Einladungskarte aussah, und wir betraten ein Foyer voller Kellner, die mit Getränketabletts umherschritten oder Häppchen verteilten. Mit einer fließenden Bewegung half Marian mir aus dem Mantel und reichte ihn zusammen mit seinem einer Garderobiere, die einen Bubikopf trug und sich die Lippen tiefschwarz geschminkt hatte.
Dann erreichten wir den Ballsaal.
Ein Meer aus schwebenden Kerzen tauchte den Raum in ein unwirkliches Licht, das von den verspiegelten Wänden noch um ein Vielfaches verstärkt wurde. Die Decke war geschmückt mit Schnitzereien, deren Einzelheiten durch feine Perlmuttplatten hervorgehoben wurden, der Fußboden schien ein einziges Mosaik aus Edelsteinen zu sein. Von Letzterem sah man allerdings nicht sonderlich viel, so voll, wie es war. Überall im Saal standen oder saßen Gäste in schmalen Abendkleidern, Handschuhen, die über die Ellenbogen reichten, Federboas und Fräcken und ich fühlte mich einmal mehr, als habe es mich in einen alten Schwarz-Weiß-Film verschlagen, in dem nur meine Ohrringe wie Tropfen frischen Blutes leuchteten und bewundernde wie neidische Blicke auf mich lenkten.
Marian führte mich zu einem winzigen Sessel mit geschwungenen Beinen. »Warte hier, ich hole uns etwas zu trinken. Absinth?«, fragte er und verschwand in der Menge, ohne meine Antwort abzuwarten.
Ich setzte mich und ließ meinen Blick über die Feiernden schweifen. Gedämpfte Swingklänge mischten sich unter das Gemurmel der Gäste, einige wagten bereits einen ersten Tanz. Andere begrüßten einander oder hatten sich in Grüppchen zusammengefunden, um Neuigkeiten auszutauschen. Und manche standen auch einfach nur da und beobachteten und bewachten. Je zwei Mitglieder des Grauen Bundes hatten sich an den Türen postiert, die in regelmäßigen Abständen von dem Saal abgingen. Zwar trugen auch sie Masken, doch ich erkannte
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