Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
Hintergrund eines farblosen Zimmers. Schwarz-Weiß-Film-Atmosphäre, wie ich sie mittlerweile von Eisenheim gewohnt war. Und dazwischen die tiefroten Ohrringe, die zu glühen schienen. Ich sah plötzlich so lebendig aus! Beinahe meinte ich, die leuchtenden Steine würden einen Hauch von Rosé auf meine Wangen zaubern.
    »Das ist magisch«, flüsterte ich.
    »Ja«, murmelte Marian heiser und räusperte sich. »Bist du soweit?«
    Ich hüllte mich in den Umhang (die Maske würde ich erst später aufsetzen), zog mir die Kapuze in die Stirn, sodass sie die Ohrringe verbarg, und atmete noch einmal tief durch, bevor ich mich umdrehte.
    »Ich bin bereit.«
    »Gut. Dann … Ach! Den muss ich wohl irgendwann mal bei dir vergessen haben.« Marian hatte den Männerpullover auf einem der Kistenstapel entdeckt und stopfte ihn in eine Innentasche seines Mantels, der daraufhin eine merkwürdig aussehende Beule warf. Unschlüssig blieb er in der Tür stehen. Sein Blick hing an meinem Bett vor dem Fenster.
    »Ich dachte, wir wollten …« Ich brach ab, denn meine Worte schienen Marian überhaupt nicht zu erreichen. Geistesabwesend stand er da, betrachtete mein Kopfkissen und rührte sich nicht. Ein wehmütiges Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt, als wäre da eine Erinnerung an ein vergangenes Glück, als dachte er an etwas, was nie wieder sein konnte.
    »Marian?«, fragte ich und schnipste mit den Fingern vor seinen Augen herum. »Marian?«
    Er zuckte zusammen. »Ja?«
    »Müssen wir nicht los?«
    Er sah mich wortlos an.
    »Zum Ball? Wollten wir da nicht gerade hingehen?«
    »Natürlich«, sagte Marian und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ja, natürlich.«
     
    Wie Schatten huschten wir durch die Flure von Notre-Dame. Wieder ging es hinab in die Katakomben und dann sehr lange geradeaus. Immer wieder drehte sich Marian zu mir um, als wolle er sich vergewissern, ob ich auch wirklich mitkam. Trotz der Dunkelheit bemerkte ich, dass der harte Zug um seinen Mund verschwunden war. Etwas Beschwingtes lag in seinem Gang. Mit federnden Schritten führte mich Marian durch das Labyrinth der Höhlen, und als ich das Gefühl hatte, schon die halbe Stadt auf unterirdischem Weg durchwandert zu haben, erreichten wir eine schmale Treppe, deren ausgetretene Stufen sich über uns in die Höhe schraubten. Sie führte auf einen Platz. Als wir oben angekommen waren, ließ die eisige Nachtluft mich frösteln. Die Nachtluft und die Aussicht auf ein gräuliches Brandenburger Tor neben der milchweißen Oper von Sydney.
    Eine Kutsche ohne Pferde erwartete uns bereits zwischen einer Litfaßsäule – die für Sir Gil Bardell, den einzigartigen Illusionisten, und seine bezaubernde Assistentin Miss Rufina Parson warb – und dem Brunnenschacht, in den die Treppe mündete. Sie setzte sich vollkommen selbstständig in Bewegung, kaum dass wir eingestiegen waren. Nicht einmal einen Kutscher schien das mit einer Schicht aus Stuck und Schnörkeln überzogene Gefährt zu benötigen. Schweigend saßen wir uns gegenüber, während die Kutsche über das Kopfsteinpflaster ruckelte und Krummsen und Graldingen am Fenster vorbeizogen. Zwischen den Häuserdächern am Horizont ragte die Silhouette mehrerer Pyramiden in das Schwarz des Himmels.
    »Du siehst heute Abend wunderschön aus«, sagte Marian schließlich in die Stille hinein. Ich spürte, wie mir unter seinem Blick das Blut in die Wangen schoss, und ärgerte mich. Schon wieder dachte ich an einen Kuss. Doch es war mir unmöglich zu sagen, ob ich ihn tatsächlich küssen wollte oder ob es nicht lediglich die Erinnerung an die Zeit vor meinem Aufwachen war. Die Gefühle, das spürte ich, kehrten als Erstes in mein Gedächtnis zurück.
    »Danke«, murmelte ich und senkte den Blick. Die Ohrringe klirrten leise, als ich den Kopf wandte. Seit Marian seinen Pullover in meinem Zimmer gefunden hatte, ging mir noch etwas anderes nicht aus dem Kopf: Ich fragte mich, wie weit meine Seele und er wohl gegangen waren, als wir noch zusammen gewesen waren. Hatten wir miteinander geschlafen? Die Vorstellung beunruhigte mich und hatte gleichzeitig etwas Aufregendes an sich. Ich grub die Fingernägel in den Stoff meines Mantels und konzentrierte mich darauf, nicht in albernes Gekicher auszubrechen.
    Marian, der glaubte, es sei die Nervosität wegen unseres bevorstehenden Abenteuers, berührte mich kurz an der Schulter. »Keine Sorge«, sagte er. »Im Handumdrehen sind wir wieder draußen und dann weißt du, dass die

Weitere Kostenlose Bücher