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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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begriff, was er meinte. Doch ichfühlte es, seinen unterdrückten Zorn, seine Einsamkeit. Wie von selbst glitt meine Hand in seine, unsere Finger verflochten sich mit dem Nachgeschmack der Vergangenheit. Er ließ es geschehen und eine Weile lang standen wir einfach nur da. Marian und ich. Vor uns der Abgrund.
    »Was ist mit ihnen geschehen? Mit deinen richtigen Eltern, meine ich«, fragte ich schließlich, doch meine Worte brachen die Magie des Augenblicks.
    Unvermittelt ließ Marian mich los. Ein verschmitztes Lächeln hatte sich auf seine bleichen Züge gestohlen, die im dunklen Glimmen des Nichts noch gespenstischer wirkten.
    »Ich weiß, was deine Seele jetzt getan hätte«, sagte er.
     
    In der nächsten Nacht stand ich in meinem Zimmer in Notre-Dame und schob mir Haarnadel um Haarnadel in meine Frisur. Ich trug das Ballkleid aus dem Kleiderschrank meiner Seele, ein Hauch von Nichts aus anthrazitfarbener Spitze, bodenlang und wirklich tief ausgeschnitten, glücklicherweise am Rücken.
    Und noch immer konnte ich nicht glauben, was ich hier tat. Hatte ich tatsächlich vor, auf Marians Vorschlag einzugehen? Würde ich mich das wirklich trauen? War das überhaupt noch mein wahres Ich? Aus dem Spiegel jedenfalls blickte mir eine Fremde entgegen. Ich hatte mein Haar zu einem Knoten gesteckt, eine einzelne Strähne kringelte sich in meinem Nacken und irgendwie hatte ich das Gefühl, das Kleid würde meine Haut in ein Schimmern hüllen.
    Es klopfte, doch heute hatte ich damit gerechnet.
    Ich öffnete einem Frack tragenden Marian, der mich über seine Fliege hinweg anstarrte. Hose und Jacke saßen so perfekt, als wären sie ihm auf den Leib geschnitten worden. Der schwarze Stoff unterstrich seine Blässe, er sah umwerfend aus, so viel stand fest. Sein Blick verfing sich in meinem. Ein triumphierendes Blitzen lag in seinen Augen, als wäre es meine Seele, die vor ihm stand. Er strahlte mich an und ich merkte, wie ich gar nicht anders konnte, als zurückzulächeln.
    »Wow«, flüsterte Marian und schlüpfte rasch in mein Zimmer, bevor jemand ihn sah und womöglich noch erkannte, was wir vorhatten.
    Denn heute Nacht war es so weit. Der Fürst feierte den 25. Jahrestag seiner Thronbesteigung. Ein rauschendes Fest war geplant, ein Maskenball. Und der Graue Bund hatte vollständig zu erscheinen, so lautete der Befehl. Die gesamte Leibgarde würde sich heute um die Sicherheit des Monarchen und seiner Gäste kümmern. Selbstverständlich sollte ich hier zurückbleiben, das hatte mir Fluvius Grindeaut deutlich zu verstehen gegeben. Auch wenn einige Hundert Gäste dorthin kommen und außerdem Masken tragen würden, die Gefahr für mich, trotzdem erkannt zu werden, bestand.
    Nun ja, ich hatte mich dank Marian entschieden hinzugehen. Ich zitterte bei dem Gedanken an unser Vorhaben. Aber schließlich konnte ich mich auch nicht ewig hinter den Mauern von Notre-Dame verstecken, das hatte mich mein Ausflug zum Nichts gelehrt. Wer wusste schon, wann meine Erinnerung endlich zurückkehren würde? Das konnte in ein paar Tagen passieren oder auch erst in mehreren Jahren. Sollte ich etwa so lange herumsitzen und mich fürchten? Auf keinen Fall. Nein, es war an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Und deshalb würden wir uns heimlich unter die Feiernden im Buckingham-Palast mischen, einen Happen vom Büfett mitgehen lassen und wieder verschwinden. Kurz und schmerzlos.
    Es war eine Mutprobe.
    Ich würde mich meiner Angst stellen.
    Marian reichte mir eine mit Pailletten und Federn besetzte Maske, die Stirn, Augen, Nase und einen Teil meiner Wangen bedecken würde, und einen weiten Mantel mit Kapuze. »Und die hier«, sagte er und holte ein Paar Ohrringe aus seiner Fracktasche. »Blutsteine. Sie gehörten meiner Mutter.«
    Mir blieb die Luft weg, als er mir die tropfenförmigen Schmuckstücke vorsichtig in die Ohrlöcher schob. Denn sie waren nicht nur wunderschön, sie waren noch dazu rot. Blutrot, um genau zu sein.
    »Aber …«, stammelte ich. »Wieso … Hier gibt es doch keine Farben! Wie kann das sein?«
    »Das sind Blutsteine«, wiederholte Marian. »Vor langer Zeit hatten unsere Alchemisten ein Rezept, um mithilfe der Dunklen Energie winzige Mengen Farbe herzustellen. Dieses Rezept ist seit fast tausend Jahren verschollen. Doch einige wenige Relikte von damals existieren noch.«
    Ich betrachtete mich im Spiegel und konnte mich gar nicht sattsehen. Da stand dieses fremde Mädchen mit der weißgrauen Haut und dem dunklen Haar vor dem

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