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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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es an ihrer Kleidung und den Langstöcken in ihren Händen: Reglos hielten sie Wache. Bis jetzt schien mich niemand hinter meiner Kostümierung erkannt zu haben. Bestimmt nicht. Oder doch? Vielleicht waren die Blutsteine nicht die beste Idee, überlegte ich. Sie waren immerhin alles andere als unauffällig.
    Ich zuckte zusammen, als ein Mann mich ansprach. Er war mittelalt und trug einen Frack, dazu die geschwungenen Hörner eines Widders. Anscheinend hatte er schon einiges getrunken, denn er stützte sich ohne Umschweife auf die Lehne meines Sessels.
    »Sie verzeihen doch, gnädiges Fräulein«, entschuldigte er sich. »Der Burgunder hat mich offenbar meinen Gleichgewichtssinn gekostet.«
    Ich bot ihm meinen Platz an, doch er lehnte ab.
    »Ich bitte Sie«, rief er und schüttelte so heftig den Kopf, dass er beinahe umgefallen wäre. »Ich werde ohnehin nicht mehr lange bleiben können. Gefällt Ihnen das Fest? Seine Hoheit hat sich wieder einmal selbst übertroffen, nicht wahr? Schade nur, dass der Fürst immer erst so spät auf seinen eigenen Partys aufkreuzt, bestimmt werde ich ihn heute wieder verpassen.« Er seufzte. »Wie jedes Jahr.«
    »Warum müssen Sie gehen?«, fragte ich und stutzte, als ich plötzlich einen schmutzigen Kopf aus der Menge hervorblitzen sah, an manchen Stellen kahl, als wäre das borstige Haar in Büscheln herausgerissen worden.
    »Ich bin Bäcker«, sagte der Widdermann neben mir, als würde das alles erklären. »Mir gehört eine kleine Konditorei in Rom.«
    »Ach so«, murmelte ich. Die Gestalt mit dem Borstenkopf humpelte jetzt durch die Menge, sie schien sich auf eine Krücke zu stützen. Vielleicht fehlte ihr eine Gliedmaße? Ich hielt den Atem an. Konnte es etwa sein, dass … Hier? Tatsächlich meinte ich einen mageren Körper unter dem breiten Schädel auszumachen, allerdings steckte dieser nicht in Lumpen, sondern in einem Anzug. Leider konnte ich das Gesicht nicht erkennen, nur die Schultern und den Hinterkopf. Ich war mittlerweile aufgestanden und reckte meinen Hals, doch es nützte nichts. Wieder einmal verfluchte ich im Stillen meine geringe Körpergröße. Wenn ich nicht so viel Angst davor gehabt hätte, Aufsehen zu erregen, wäre ich auf meinen Sessel geklettert. So aber blieb mir nur mitanzusehen, wie die Gestalt den Saal durch eine der Türen verließ.
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte der Widdermann. »Sie sind so blass geworden. Ich empfehle Ihnen, in jedem Fall ein Glas Burgunder zu trinken, das – verdammt!« Der Bäcker begann zu flackern. Vor meinen Augen wurde er immer durchscheinender. Er seufzte. »Mein Wecker klingelt, die Frühschicht ruft«, sagte er. »Wenn Sie mich entschuldigen wür–«
    Er verschwand, bevor er seinen Satz beenden konnte. Ich starrte den leeren Fußboden neben mir an. Langsam begann ich mich daran zu gewöhnen, dass die Leute sich vor meinen Augen in Luft auflösten, wenn sie aufwachten. Es schickte sich nicht, dies in Gesellschaft zu tun, deshalb hatte in Notre-Dame jeder sein eigenes Zimmer, in das er sich zurückziehen konnte, sobald es Morgen wurde. Doch manchmal schaffte man es eben nicht rechtzeitig oder ein unerwarteter Weckruf riss einen aus dem Schlaf. War mir dasselbe nicht gerade erst in Fluvius Grindeauts Alchemielabor passiert?
    Marian kehrte mit zwei Kristallgläsern zurück, in denen sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand. »Zitronenlimonade«, erklärte er und grinste.
    »Das ist mein Lieblingsgetränk.«
    »Ich weiß.«
    Anscheinend war es im Saal noch voller geworden, denn plötzlich standen wir ziemlich nah beieinander. Fast berührten sich unsere Nasenspitzen.
    »Und?«, fragte Marian leise. »Wie fühlst du dich? Angst?«
    Ich nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. Sein Geruch umfing mich. Ich hatte mittlerweile mindestens drei weitere Schattenreiter im Raum entdeckt und sie beunruhigten mich, ja. Aber echte Furcht verspürte ich nicht auf diesem Fest zwischen all diesen ausgelassenen Menschen. Mit meiner Maske fühlte ich mich sicher. Und mit Marian.
    »Weißt du eigentlich von Madame Mafaldas geheimem Eiscremevorrat?«, fragte Marian.
    »Nein«, flüsterte ich.
    »Vor ein paar Wochen haben wir beide uns in ihre Gemächer geschlichen und ihn geplündert. Sie verdächtigt immer noch den Großmeister und weigert sich seitdem, mit ihm Schach zu spielen, was ihn langsam, aber sicher an den Rand des Wahnsinns treibt, weil sie die einzige ernst zu nehmende Gegnerin für ihn ist. Gegen alle anderen gewinnt er

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