Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
über unseren Fürsten sagen. Darum lasst uns darauf trinken, dass seine Herrschaft noch viele weitere Jahre andauern möge.« Der Kanzler erhob sein Glas und die Menge prostete ihm zu. Beifall ertönte.
    Da ich selbst gerade kein Getränk zur Hand hatte, beschränkte ich mich darauf, ebenfalls zu klatschen und zu beobachten, wie der Fürst nieste. Es war ein sehr leises Niesen, im allgemeinen Lärm kaum zu hören. Nur daran, wie der Kopf des Fürsten nach vorn zuckte, erkannte ich es. Vielleicht hatte er Staub in die Nase bekommen. Oder er litt an einer Allergie. Jedenfalls war es dieses feine Niesen, das dafür sorgte, dass mein Weltbild einen Augenblick später in tausend Scherben zersprang.
    Im Nachhinein glaube ich, alles geschah wie in Zeitlupe. Unwirklich, wie in einem Film, den man vor meinen Augen abspulte. Der Fürst nieste. Jemand zückte ein Stofftaschentuch aus seiner Brusttasche. Es war ordentlich gebügelt, sodass man die Knicke, wo es gefaltet gewesen war, sehen konnte. In einer Ecke prangte eine gestickte Blüte. Dankbar nahm der Fürst es entgegen, hielt es einen Wimpernschlag lang in seiner Hand, an deren kleinem Finger er einen Siegelring trug, und wollte schon hineinschniefen, als ihm seine Maske einfiel. Mit einer fahrigen Bewegung schob er das Fischgesicht über seine Stirn.
    Und mir wurde schwindelig.
    Mein Blick explodierte. Ich spürte, wie sich Marians Hand in meine schob und darin verkrallte. Auch er sah, was ich sah, und hielt mich fest.
    »Nicht«, flüsterte er und schlang seine Arme um meine Schultern. »Komm, lass uns gehen. Ich kann dir alles erklären.«
    Doch ich achtete gar nicht auf ihn, versuchte mich loszumachen, wollte nach vorn stürzen. Die ersten Gäste wurden auf uns aufmerksam. Es war mir egal. Mit einem Ruck riss ich mir die Maske vom Gesicht. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie die Köpfe mehrerer Schattenreiter zu mir herumschnellten, wie sie die Witterung aufnahmen.
    Mit einem Satz waren drei Kämpfer des Grauen Bundes bei uns, sie hatten ihre Langstöcke erhoben, um mich zu verteidigen. Zwischen ihren Rücken hindurch sah ich, wie ein Lächeln über das Gesicht des Kanzlers huschte. Dann blickte ich wieder zum Fürsten, der doch nicht wirklich der Fürst sein konnte.
    Oder etwa doch?
    Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte das sein? Und wieso hatte ich es nicht gewusst?
    Tränen rannen mir über die Wangen. Blind stürzte ich auf ihn zu, ein einziges Wort auf den Lippen.
    »Papa!«, rief ich.
    Überrascht starrte mein Vater mich an.

12
DER SCHATTENFÜRST
    »Flora«, flüsterte er und dann noch einmal: »Flora?«
    Mein Vater war ein Wandernder! Er war der Schattenfürst! Ich stolperte ihm entgegen, barg mein Gesicht an seiner Brust wie ein Kind und spürte, wie er zögernd die Arme um mich legte. Sein Mantel erstickte mein Schluchzen. Jemand rief etwas, doch ich verstand es nicht. Ich verstand gar nichts mehr. Die Tränen quollen aus meinen Augenwinkeln hervor, als wollten sie nie wieder versiegen, und ich bekam kaum Luft. Ich hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Strudel hinabgerissen zu werden, aus dem es kein Entkommen gab. Wo war ich hier hineingeraten? Würde dieser Albtraum denn nie ein Ende nehmen? Gerade noch hatte ich so etwas wie Glück empfunden, ich hatte für einen Augenblick fast damit aufgehört, mich ununterbrochen zu fürchten. Und jetzt?
    Marian! Marian hatte es gewusst. Er musste es gewusst haben und hatte mich belogen. Ebenso Christabel. Und mein Vater.
    Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg, ein Funken, der in meinem Hals zu glühen begann und dann langsam zu der Stelle hinter meinen Augen hinaufwanderte. Ich trat einen Schritt zurück. »Wieso?«, fragte ich tonlos.
    Mein Vater presste die Lippen aufeinander und sah einmal mehr aus wie ein Mensch aus Papier, den man mit einer unbedachten Bewegung zerreißen würde. »Du bist aufgeweckt worden«, murmelte er. »Wie konnte das passieren?«
    Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass der Kanzler dem Orchester einen ungehaltenen Wink zuteilwerden ließ. Die Musik setzte wieder ein, das Fest sollte weitergehen. Doch noch immer starrte mindestens der halbe Saal meinen Vater und mich an. Inklusive mehrerer Schattenreiter.
    »Es … hat mit diesem Stein zu tun«, stammelte ich. »Anscheinend hat meine Seele ihn gestohlen und …«
    Doch mein Vater hörte mir gar nicht zu. Sein Blick schweifte zum Kanzler, dann wieder zurück zu mir. Er blinzelte, als würde er mich erst jetzt erkennen. Langsam, als wäre

Weitere Kostenlose Bücher