Stadt aus Trug und Schatten
er darauf bedacht, nur ja keine hektischen Bewegungen zu machen, hob er eine Hand.
»Flora, Schatz«, sagte er. »Du musst keine Angst haben, alles wird wieder gut. Das hier ist die Schattenwelt. Es kommt dir bestimmt verrückt vor, aber das hier ist real. Kein Traum, verstehst du?«
»Ich weiß, was die Schattenwelt ist.«
Die Augen meines Vaters weiteten sich. »Aber –«, begann er, wurde jedoch vom Kanzler unterbrochen, der mit einer Eskorte von Schattenreitern zu uns getreten war und sich nun zu seinem Fürsten vorbeugte, um ihm etwas zuzuraunen. »Mit Verlaub, Hoheit, diese Dinge sollten Sie nicht vor Ihren Gästen besprechen.«
»Ja … ja, richtig.«
»Wenn Sie erlauben, werden meine Männer und ich Ihre … Tochter in die Bibliothek geleiten, während Sie Ihren Pflichten nachkommen.«
»Nein!«, entfuhr es mir. Auf keinen Fall würde ich mit den Schattenreitern mitgehen. Ich war schließlich nicht lebensmüde.
Mein Vater zögerte, sah mich an.
»Hoheit, denken Sie an Ihre Gäste. Sie erwarten die Zeremonie.«
Der Fürst nickte. »Wir sehen uns später, Flora. Mein Kanzler kümmert sich so lange um dich. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Ich hatte aber Angst.
Besonders, weil ich im selben Moment spürte, wie sich die Hand des Kanzlers um meinen Oberarm legte wie eine Schraubzwinge.
»Hey!« Ich fuhr herum, wollte mich losmachen, doch er hielt mich unerbittlich, ein Lächeln auf den Lippen. Schon flankierten uns die Schattenreiter und wir setzten uns in Bewegung, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können. Mein Vater durchmaß den Raum mit langen Schritten und lenkte die Aufmerksamkeit der Gäste von mir ab. Die ersten von ihnen begannen schon wieder zu tanzen oder sich zu unterhalten. Nur einer schaute noch immer zu mir herüber: Stocksteif stand Marian auf dem Mosaikfußboden und sah mir nach. Sein Blick war so hart und leer wie Glas.
Hastig riss ich mir mit meiner freien Hand die Blutsteine aus den Ohren und warf sie von mir. Wie Feuertränen rollten sie über den kühlen Marmor. Ob Marian sich nach ihnen bückte, konnte ich nicht mehr erkennen.
»Ich weiß nicht, wo der Stein ist!«, rief ich, kaum dass wir den Ballsaal verlassen hatten und in ein angrenzendes Zimmer getreten waren, an dessen Stirnseite ich einen staubigen Thron entdeckte. Es handelte sich anscheinend um eine Art Audienzraum. Die Wände waren über und über bedeckt mit Porträts in wuchtigen Rahmen. Menschen, die einander auffallend ähnelten, waren darauf abgebildet. Auf einem der Gemälde erkannte ich meinen Vater, auf einem anderen meinen Großvater. Und eine Frau mit turmhoher Rokokoperücke hatte eindeutig die gleiche Nase wie ich. »Ich habe wirklich überhaupt keine Ahnung.«
»Noch nicht«, sagte der Kanzler und zog mich mit sich.
Ein bitterer Geschmack legte sich auf meine Zunge, als wir auf eine weitere Tür zusteuerten. Panik stieg in mir auf. Was hatten diese Leute mit mir vor? Das Glühen hinter meinen Augen verwandelte sich in ein Pochen.
»Lassen Sie mich los!«, zischte ich und versteifte mich. Wenn sie mich einsperren wollten, mussten sie mich schon in ihr Verließ schleifen, entschied ich und hatte im nächsten Moment noch eine Idee.
»Hilfe!«, rief ich, so laut ich konnte. »Hiiiilfeee!«
Es funktionierte. Die Schattenreiter ruckten nervös die Köpfe, während ich Luft holte.
»Hiiiiiiiiiilfeeeeeeee!« Ich kreischte jetzt. Auch der Kanzler wirkte beunruhigt. Hastig zog er mich weiter und im Stolpern gelang es mir zumindest, einen saftigen Tritt gegen sein Schienbein zu platzieren.
»Ha!«, triumphierte ich.
Der Kanzler hatte allerdings nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er zupfte sich eine Fussel von seinem Anzug, der in dem gleichen Schwarz glänzte wie sein schulterlanges Haar, und ließ mich los. Stattdessen packte mich einer der Schattenreiter bei den Schultern und riss mich unsanft nach hinten. War ich zuvor noch mehr oder weniger selbst gelaufen, so hatte ich dazu nun keine Chance mehr. Zügig brachte man mich fort von den Gästen und eine Sekunde später befanden wir uns bereits in einem dämmrigen Flur. Meine Fußspitzen schleiften über staubige Teppiche, denen ein Geruch entstieg, als wären sie seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgelüftet worden. Dieser Trakt des Palastes wirkte nicht gerade bewohnt, sondern eher wie ein Ort, an den man unliebsame Besucher brachte, hinter ihnen die Tür abschloss und den Schlüssel wegwarf.
»Sie dürfen mir nichts tun!«, rief ich.
Mein
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