Stadt aus Trug und Schatten
Entführer wandte sich zu mir um. »Das haben wir auch nicht vor, im Gegenteil. Wir geleiten Sie lediglich in die Bibliothek, Prinzessin. Aber da Sie ja nicht freiwillig mitkommen wollten, sind wir leider zu diesen Maßnahmen gezwungen.« Er wirkte beinahe liebenswürdig. Doch ich durchschaute seine aufgesetzte Freundlichkeit. Prinzessin, wie das klang!
»Pah«, machte ich abfällig und kniff die Augen zusammen. »Ihre Monsterreiter sind doch schon die ganze Zeit hinter mir her.«
Der Kanzler war vor mir stehen geblieben und sah mir direkt in die Augen. Die samtene Dunkelheit seiner Iris umhüllte meinen Blick. »Nur um Sie hierher in den Palast zu holen. Oder zu einem … Freund in der realen Welt, je nachdem, wo wir Sie erwischt hätten. Sie haben einen schweren Diebstahl begangen, das stimmt. Doch wenn Ihre Erinnerung zurückkehrt, können Sie es wiedergutmachen. Meine Männer hatten den Auftrag, Sie zu mir zu bringen. Dass Sie nun von selbst hier erschienen sind, macht die Sache für alle Beteiligten deutlich angenehmer, würde ich sagen. Wir werden Sie selbstverständlich auch weiterhin strengstens im Auge behalten, bis wir wissen, ob wir Ihnen trauen können. Und wir werden Sie beschützen.«
Ich schnaubte. Trotzig starrte ich ihn an. »Ich will sofort mit meinem Vater sprechen. Was fällt Ihnen eigentlich ein?«
Er lächelte und bekam dabei ein Grübchen in der Wange. »Ehrlich gesagt sind meine Männer und ich nicht diejenigen, die das wertvollste Objekt aus der Schatzkammer des Fürsten entwendet haben«, sagte er und hatte damit natürlich nicht ganz unrecht.
Ich schluckte. »Aber ich weiß nichts über diesen Stein, was das für ein Ding ist und warum es so wertvoll sein soll. Und an den Diebstahl erinnere ich mich erst recht nicht. Ich verstehe ja nicht einmal, warum alle so ein Aufheben um diesen Löwenstein machen!«
»Er besitzt … Kräfte.«
Ich verdrehte die Augen. »So viel habe ich auch schon mitbekommen.«
Wir hatten unseren Weg mittlerweile fortgesetzt und durchquerten gerade einen weiteren Saal, in dem alle Möbel mit weißen Tüchern verhängt waren. Noch immer zeigte ich mich unkooperativ und machte mich in den Armen des Schattenreiters so schwer wie möglich.
»Bestimmt haben Sie schon einmal vom Stein der Weisen gehört, oder?«, nahm der Kanzler, der nun wieder voranging, den Faden erneut auf. Ich antwortete nicht, dennoch sprach er weiter. »Es gibt diesen Stein nicht, weil es chemisch unmöglich ist. Man kann unedle Metalle nicht in Gold verwandeln, das funktioniert höchstens mit Platin, selbst in dieser Welt. Aber es gibt einen anderen Stein, nach dem Alchemisten jahrhundertelang gesucht haben, und das ist der Weiße Löwe. Mit seiner Hilfe können unedle Metalle in Silber verwandelt werden. Er ist also eine nie versiegende Quelle des Reichtums für den Fürsten. Und er hat noch andere Kräfte«, erklärte der Kanzler und fuhr, ohne sich noch einmal zu mir umzublicken, fort: »Wir beide wissen, dass Ihre Seele es war, die den Stein stahl. Ihr Vater hingegen hat keine Ahnung und ich denke, dass sollte auch so bleiben, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber –«, begann ich.
»Sie kennen Ihren Vater und wissen, dass er manchmal, nun, schwierig ist, nicht wahr? Es wäre zu viel für ihn. Dass Sie nun eine Wandernde sind, ist schon mehr, als er verkraften kann.«
Er hatte recht. Schon wieder! In meinem Kopf summte es. Ich konnte noch immer nicht fassen, was gerade mit mir passierte. War etwa alles, was man mir in Notre-Dame erzählt hatte, falsch gewesen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Trotzdem, sie hatten mich dort belogen, was den Fürsten betraf, und vielleicht auch noch in anderen Punkten! Fest stand im Moment nur eines: Meine Seele hatte meinen Vater bestohlen und den Stein versteckt. Aber warum? Wem konnte ich in dieser Welt überhaupt trauen? Niemandem, hatte in dem Brief in meinem Zimmer gestanden. Nicht einmal dir selbst.
Wir erreichten eine winzige, unscheinbare Tür aus dunklem Holz. Sie war in eine Nische im Mauerwerk eingelassen und wurde halb von einem Vorhang verdeckt. Hätten mich die unerbittlichen Hände des Schattenreiters nicht in diese Richtung gestoßen, sie wäre mir gar nicht aufgefallen. Der Kanzler zückte einen schmiedeeisernen Schlüssel und führte mich kurz darauf in einen kreisrunden, mit Teppichen ausgelegten Raum, dessen Decke sich in mindestens fünfzehn Meter Höhe wölbte. Jeder Zentimeter Wand war von üppig bestückten
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