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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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gerannt und hatte ihn ebenfalls wach gerüttelt. Im Schlafanzug saß er nun vor mir, die Augen gerötet, und suchte nach Worten.
    »Warum hast du mir nichts gesagt?«, fragte ich und funkelte ihn an. Ich wollte nicht beruhigt werden, ich verlangte eine Erklärung.
    »Um dich zu beschützen«, sagte er schließlich. »Ich wusste doch gar nicht, dass du aufgeweckt werden würdest. Das sollte niemals geschehen, schon bei deiner Geburt haben deine Mutter und ich es uns geschworen. Wir –«
    »Mama ist auch eine Wandernde? Wo ist sie?« Ein Knoten bildete sich in meiner Brust.
    »Deine Mutter … Das tut nun nichts zur Sache.« Er senkte den Blick. »Glaub mir, Flora, es ist schrecklich, in zwei Welten leben zu müssen. In einer ist es doch oft schon schwer genug. Nie ist man ganz irgendwo zu Hause, nie kommt man zur Ruhe. Auf die Dauer zerreißt einen dieses Leben. Schon so mancher Wandernde hat darüber den Verstand verloren und auch ich fürchte seit Jahren um meinen. Wir wollten dir das alles ersparen. Deshalb haben wir deine Seele in der Schattenwelt an einen geheimen Ort gebracht, anstatt dich aufzuwecken, wie es die Wandernden seit Generationen mit ihren Kindern tun. Es hat dir an nichts gemangelt. Du warst glücklich dort. Und hier, in dieser Welt, konntest du normal aufwachsen. Niemals sollte es geschehen, dass man dich aufweckt.«
    »Aber nun ist es doch passiert.«
    Mein Vater nickte traurig. »Ja, irgendwie. Der Kanzler glaubt, es liege an deinen Genen. Du bist die Tochter des Fürsten, die rechtmäßige Thronfolgerin. Vielleicht war es unabwendbar, dass du zur Wandernden wurdest, obwohl ich dich Nacht für Nacht bewachen ließ. Der Kanzler hält es für möglich, dass die Dunkle Energie von selbst zu dir kam, um das Gefüge der Schattenwelt und ihrer Herrschaft im Gleichgewicht zu halten.«
    Ich biss mir auf die Lippe. So war es nicht gewesen. Fluvius Grindeaut hatte mich aufgeweckt, nein, ich selbst war es gewesen. Ich öffnete den Mund, um meinem Vater die Wahrheit zu sagen, schwieg dann aber doch. Was war überhaupt die Wahrheit? Was hatte meine Seele getan und gewusst? Ich hatte noch immer keine Ahnung. Und bevor ich die Antworten auf diese Fragen nicht gefunden hatte, konnte ich niemandem trauen. Auch meinem Vater nicht. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Stich.
    Mit beiden Händen fuhr mein Vater sich durch das Gesicht. »Ich hatte geahnt, dass deine Seele irgendwo in Eisenheim unterwegs war, aber ich habe erst auf dem Ball erfahren, dass du nun eine Wandernde bist, Flora, ich wusste es wirklich nicht. Und wieso hätte ich dir vorher von Eisenheim und alledem erzählen sollen? Im besten Fall hättest du mich für verrückt gehalten, im schlechtesten darauf bestanden mitzukommen.«
    »Vermutlich«, sagte ich und verschwand nun doch in der Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen. Als ich wieder zurückkam, wirkte mein Vater deutlich gefasster. Ich erkannte es daran, dass er mit aufgekrempelten Ärmeln über einem der Aquarien stand und die Scheiben von Algen reinigte, während ihm ein Schwarm Neonfische um die Fingerspitzen schwirrte.
    »Ich werde dir zu Ehren ein Festessen in der Schattenwelt geben und dich meinen Untertanen offiziell vorstellen. Immerhin bist du die Thronfolgerin«, verkündete er, kaum dass ich den Raum betreten hatte.
    Das Wort »Thronfolgerin« ließ mich an den Film Plötzlich Prinzessin denken. Und an die Ermordung des österreichischen Kronprinzen in Sarajevo kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Ich schluckte. Mein Vater schob mit der Schulter seine heruntergerutschte Brille zurück auf seine Nase.
    »Allerdings noch nicht sofort«, erklärte er. »Du hast dir nämlich einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um eine Wandernde zu werden. In Eisenheim geht etwas vor sich. Wir wissen nicht genau, was es ist, doch ein mächtiger Feind scheint dahinterzustecken.« Er klaubte eine Schnecke vom Blatt einer Wasserpflanze. »Vor Kurzem ist jemand in meine Schatzkammer eingedrungen. Er hat nichts angetastet, weder Silber noch Diamanten. Nur eine Sache: einen Stein, einen sehr mächtigen Stein. Er ist das Wertvollste, was ich besitze.«
    Ich nickte. »Davon habe ich gehört.« Ich war es. Ich habe dich bestohlen, rief es in mir, doch ich brachte die Worte nicht über die Lippen, obwohl doch sonst alles nur so aus mir heraussprudelte. Wieso nur hatte ich das alles getan?
    Mein Vater wandte sich zu mir um, als hätte er meine Gedanken gehört. Wasser rann von seinen

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