Stadt aus Trug und Schatten
Bücherregalen bedeckt, ein samtenes Sofa stand in der Mitte des Zimmers. Auf diesem setzte mich der Schattenreiter ab. Dann verabschiedete er sich mit einer abgehackten Verbeugung und verschwand zusammen mit seinen Kollegen.
Der Kanzler nahm neben mir Platz. »Mein Name lautet übrigens Alexander von Berg, ich führe die Regierungsgeschäfte Ihres Vaters und bin seine rechte Hand, sein Auge und sein Ohr«, sagte er, aber ich reagierte nicht. Eine Weile betrachteten wir beide das Meer aus Bücherrücken, das uns umgab.
»Fluvius Grindeaut hat gesagt, der Stein müsse zerstört werden«, durchbrach ich irgendwann die Stille.
Der Kanzler schüttelte den Kopf. »Flora«, seufzte er, »Sie sollten dringend darüber nachdenken, ob Ihre Seele nicht den falschen Leuten vertraut hat. Ich bin derjenige, der Ihnen helfen kann. Ich bin derjenige, der Sie niemals belügen würde.«
Ich dachte an Marian, der mich hintergangen und heute Abend beinahe geküsst hatte. Ein warmes Kribbeln durchlief meine Schläfen, doch noch jemand anderes tauchte vor meinem inneren Auge auf: Amadé! Amadé, die Schreckliches hatte durchleiden müssen. War sie nicht den Schattenreitern in die Hände gefallen? Ihre Reaktion auf den Kanzler vor ein paar Tagen hatte jedenfalls Bände gesprochen …
»Vielleicht habe ich tatsächlich den Falschen getraut«, sagte ich schließlich. »Aber Ihnen kann ich auch nicht trauen.«
Der oberste Befehlshaber der Schattenreiter hob eine Augenbraue und sah noch jünger aus, kaum älter als ich, sodass es mir plötzlich lächerlich erschien, ihn zu siezen. Doch noch immer lag etwas in seinem Blick, etwas Dunkles, Altes, ein Abgrund, der in seine Seele oder geradewegs in den Schlund der Hölle führen mochte.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich habe Amadé gesehen«, stieß ich hervor.
Da trat Schmerz auf die jungenhaften Gesichtszüge. »Was mit ihr geschehen ist, das … So etwas hätte ich nie zugelassen«, flüsterte er. »Aber ich konnte es nicht verhindern.«
»Wieso nicht?«, fragte ich etwas weniger trotzig. Konnte es tatsächlich sein, dass alles, was man mir beim Grauen Bund erzählt hatte, falsch gewesen war? Wie sollte ich wissen, wer in diesem Spiel auf welcher Seite stand?
Der Kanzler schwieg gequält, betrachtete seine Knie. »Es ging um Eisenheim. Um die Zukunft dieser Stadt und Ihrer Familie«, sagte er schließlich. Dann erhob er sich. »Ihr Vater wird bald zu Ihnen kommen. Reden Sie mit ihm, aber nehmen Sie Rücksicht auf seine Nerven. Und wenn Ihre Erinnerung zurückkehrt, kommen Sie zu mir, damit wir den Stein zurückholen können«, sagte er und ließ mich allein mit den Büchern, deren Staub in der Luft hing wie ein Flüstern.
Unschlüssig strich ich an den Regalen entlang, zog hier und da ein besonders schön gebundenes Exemplar heraus und blätterte darin. Viele Klassiker waren darunter, aber auch naturwissenschaftliche Nachschlagebände und eine Bibel. Die Titel spukten mir durch den Kopf, verloren sich jedoch sogleich wieder zwischen meinen Gedanken. Noch immer dachte ich an Marian und Amadé, an Fluvius Grindeaut und Madame Mafalda. Und an meinen Vater und den Kanzler, dem er bedingungslos zu vertrauen schien. Es stimmte, ich hatte keine Ahnung, was geschehen war, ich konnte niemandem trauen, nicht einmal mir selbst.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit überrollte mich, während tief in meinem Innersten ein Entschluss reifte: Ich konnte nicht länger darauf warten, dass ich mich an irgendetwas erinnerte. Ich musste die Sache selbst in die Hand nehmen, koste es, was es wolle.
Und ich würde die Wahrheit schon herausfinden.
13
SCHATTENFLUG
Am nächsten Morgen weigerte ich mich, das Fischfutter auf unserem Wohnzimmerboden aufzufegen. Auch den Koffer, den mein Vater gestern Abend nach der Rückkehr von seiner Vortragsreise im Flur abgestellt hatte, packte ich nicht aus. Stattdessen stand ich mit verschränkten Armen da und starrte meinen Vater an, der zusammengesunken in seinem Sessel saß und so aussah, als würde er gern einen Kaffee trinken, den ich allerdings nicht gekocht hatte.
Ich war wütend, stundenlang hatte er mich letzte Nacht in seiner Bibliothek warten lassen. Und als er dann endlich aufgetaucht war, hatte er mir fast dreißig Minuten lang versucht zu erklären, was die Schattenwelt war und dass ich keine Angst zu haben brauchte. Ich war nicht zu Wort gekommen und irgendwann hatte dann mein Wecker geklingelt. Zornig war ich in das Schlafzimmer meines Vaters
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