Stadt aus Trug und Schatten
gar nichts über mich. Keiner von euch. Ich kenne mich ja selbst nicht einmal«, stieß ich hervor und spürte, wie sich mein Blick verhärtete, als ich Marian in die Augen sah. »Und wie könnte ich mit jemandem zusammen sein, dem ich nicht trauen kann?«
Es war kaum mehr als ein Flüstern gewesen. Einen endlosen Moment lang hing es in der Luft zwischen uns, dann veränderte sich Marians Gesichtsausdruck, als glitte ein Schleier darüber. Mit einem Mal schien er durch mich hindurchzusehen. Ohne Vorwarnung wandte er sich ab und eilte mit langen Schritten davon.
»Ihr seid also kein Paar«, sagte Linus und wirkte erleichtert.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, während Wiebke, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, sich bei mir unterhakte und mich langsam, aber bestimmt von ihrem Bruder wegzog.
»Wir müssen zum Unterricht«, erklärte sie und fügte etwas leiser hinzu: »Und wir beide müssen uns unterhalten. Was ist los mit dir? Es ist diese Austauschschülersache, oder? Dein Vater hat endgültig den Verstand verloren. Und du magst Marian mehr, als du zugeben willst.«
Ich zuckte mit den Achseln, überlegte, wie viel von der Wahrheit ich Wiebke zumuten konnte, und hörte in der nächsten Sekunde den Flügelschlag eines großen Tieres über mir. Instinktiv zog ich den Kopf ein und tastete nach der Sichel in meiner Hosentasche. Auch ohne hinaufzusehen, wusste ich, dass es einer der Schattenreiter war, der mich verfolgte. Schon in einem der U-Bahn-Tunnel hatte ich gemeint, das schwarz glänzende Fell eines Pferdes zu erkennen, das neben dem Waggon hergaloppiert war. Allerdings machte der Reiter keinerlei Anstalten, mich anzugreifen.
»Wir werden Sie selbstverständlich auch weiterhin strengstens im Auge behalten, bis wir wissen, ob wir Ihnen trauen können«, hatte der Kanzler gesagt und es sah ganz danach aus, als hielte er sein Wort. Als würden seine Leute mir fortan zwar noch immer folgen, aber nicht mehr Jagd auf mich machen. Das hoffte ich zumindest.
Doch nicht nur der Eiserne Kanzler beobachtete mich, als ich wenig später im Unterricht saß. Wir schrieben einen Chemietest und natürlich konnte ich mich kaum auf die Aufgaben konzentrieren. Formeln und Versuchsaufbaue waren so ziemlich das Letzte, womit ich mich gerade beschäftigen wollte. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab und mit ihnen mein Blick, aus dem Fenster und über die Dächer des gegenüberliegenden Schulflügels und der angrenzenden Gebäude. Schon zu Beginn der Stunde hatte ich den Schattenreiter auf der Sporthalle entdeckt. Mit verschränkten Armen stand er da, vollkommen reglos, während sein geflügeltes Reittier an der Teerpappe der Abdeckung kaute.
Aber es war nicht der Schattenreiter, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war jemand anderes. Flackernd saß er an der Kante des Auladaches, die Beine baumelten über dem Abgrund, die Lippen hatte er so fest aufeinandergepresst, dass alles Blut aus ihnen gewichen war. Ich kannte diese schwarz-weiße Gestalt mit dem Haar von beinahe gleißender Helligkeit nur zu gut. Längst hatten sich die Einzelheiten seiner Züge in mein Gedächtnis gebrannt wie ein Siegel. Marian.
»Flora«, flüsterte er so leise, dass ich es durch das geschlossene Fenster unmöglich hätte hören können. Doch ich sah nicht nur, wie er die Lippen bewegte, ich fühlte auch den Klang meines Namens, als wäre Marians Stimme nichts weiter als einer meiner Gedanken. Erst jetzt bemerkte ich die Verzweiflung, die im silbrigen Glanz seiner Augen lag.
Der Chemietest verschwamm auf dem Tisch vor mir zu einer unförmigen Masse aus Buchstaben, Zahlen und Papier. Ich fragte mich, was ich hier überhaupt machte. Mein Platz war nicht zwischen Federmäppchen und unter dem Heft versteckten Spickzetteln. Ich sollte dort draußen sein. Bei Marian. Ich spürte es ganz deutlich und wollte es doch nicht wahrhaben. Er hatte mich belogen. Ich hätte wütend sein müssen. Wo war die Bitterkeit, die vorhin noch wie ein Knoten in meiner Brust gelegen hatte? Ich konnte niemandem trauen. Niemandem, und deshalb …
Stattdessen stellte ich mir vor, wie es wäre, zu ihm zu gehen. Jetzt sofort. Wenn ich einfach aufstünde, ganz egal, was meine Lehrerin davon halten würde. Dieser Test war doch sowieso sinnlos. Ich war eine Niete in Chemie. Die Aufgaben hatten sich in meinem Kopf in Luft aufgelöst. Hielt ich meinen Stift eigentlich noch in der Hand? Ich blinzelte und erschrak.
Ich saß nicht länger an meinem Platz. Und
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