Stadt aus Trug und Schatten
vielleicht? Ich nagte an meiner Unterlippe. Glücksspielbetrug? Sicher gab es eine Menge Dinge, bei denen man nur einen geheimen Code, ein Passwort, einen militärischen Einsatzplan ausspionieren musste, um in Windeseile Millionär zu werden.
»Es geschieht zwar nicht oft, dass ein Wandernder es mit dem Verbrechen probiert, aber hin und wieder ist es doch der Fall. Mithilfe dieser Karten können Christabel und ich rekonstruieren, welcher Wandernde sich wann ungefähr wo befand. Wir lesen uns meist nachts durch die Weltnachrichten und halten Ausschau nach Verbrechen, die nach der Handschrift eines Wandernden aussehen. Manchmal bekommen wir auch Tipps von der CIA oder vom Bundesnachrichtendienst. Wir machen dann die Identität der Übeltäter aus und geben die Daten an die Polizei des jeweiligen Landes weiter.«
»Das heißt also …«, stammelte ich.
»Dass Fürst ein Fulltime-Job ist«, seufzte mein Vater, der allein bei dem Gedanken wieder vollkommen fertig aussah.
So langsam wurde mir einiges klar.
»Hey, du trägst ja den neuen Rock!«, begrüßte Wiebke mich grinsend, als wir uns auf dem Schulweg in der U-Bahn trafen. »Steht dir super«, erklärte sie mit übertriebener Begeisterung. Ihr war sicherlich nicht entgangen, wie blass ich in den letzten Tagen geworden war. Andauernd schweiften meine Gedanken in die Schattenwelt. Natürlich sprach ich nicht mit Wiebke darüber, für Außenstehende war diese Geschichte viel zu wahnwitzig. Trotzdem spürte ich, wie Wiebke nach und nach damit begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen, denn an Kreislaufprobleme glaubte sie mittlerweile wohl auch nicht mehr.
Linus wirkte an diesem Morgen ebenfalls, als bedrücke ihn etwas. Nein, eigentlich nicht etwas, sondern jemand. Denn ich hatte weder auf seine nächtliche SMS von neulich geantwortet noch ein Wort darüber verloren. Und anscheinend war er zu dem Schluss gekommen, dass ich mich anderweitig orientiert hatte … Mit finsteren Blicken beobachtete er Marian (der heute übrigens äußerst schweigsam war, als fehlten ihm genau wie mir die Worte, um zu erklären, was letzte Nacht geschehen war) und schnaubte verächtlich, wann immer dieser sich erdreistete, neben mir zu gehen.
Beinahe wäre er auf Marian losgegangen, als dessen Hand beim Aussteigen aus der Bahn versehentlich meinen Arm streifte. Doch dann murmelte er nur etwas, was wie »Idiotenfinne« und »Möchtegern« klang, und hob sich körperliche Attacken noch ein paar Minuten lang auf. Es geschah nämlich erst, als wir das Schulgelände schon fast erreicht hatten. Wir befanden uns gerade auf Höhe des Kiosks, an dem wir uns im Sommer immer Wassereis kauften, und Wiebke und ich betrachteten im Vorbeigehen die Schlagzeilen der Klatschblätter in der Zeitschriftenauslage (Erstaunlich, wer alles schon wieder bis auf die Knochen abgemagert durch Hollywood lief!), als hinter uns plötzlich ein dumpfes Geräusch ertönte.
»Glotz sie nicht so an, du Penner!«, rief Linus und ich sah aus dem Augenwinkel gerade noch, wie er seine Faust zurückzog, mit der er Marian anscheinend einen Schlag vor die Brust verpasst hatte.
Dieser keuchte überrascht auf. »Sag mal, spinnst du? Was soll das?«
Im nächsten Moment schon stieß Marian Linus gegen die Schultern. Er hatte kaum Kraft hineingelegt, doch Linus taumelte ein paar Schritte rückwärts, ehe er sich fing und wieder vorstürmte, die Hände erhoben wie ein Boxer.
»War das etwa schon alles?«, schnaubte er. »Na los, komm doch, wenn du dich traust!«
»Ich will mich nicht mit dir prügeln.«
»Und ich will, dass du deine Finger von Flora lässt. Sie gehört zu mir, klar?«
»Linus!«, rief ich und baute mich vor ihm auf. »Wir sind nicht mehr zusammen! Wie oft soll ich dir das noch erklären?«
»Aber … das mit uns, das wird wieder«, stammelte er. Ich schüttelte den Kopf, doch er sah mich schon gar nicht mehr an. Stattdessen wandte er sich wieder an Marian. Zorn lag in seinen Gesichtszügen. Und Hilflosigkeit.
»Ich weiß genau, was hier läuft mit ihr und dir.« Linus spuckte ihm die Worte regelrecht vor die Füße. »Aber so einfach geht das nicht. Du bist gerade mal seit einer Woche hier. Du kennst sie doch gar nicht.«
Marian lächelte matt. »Ich kenne Flora besser, als du denkst. Wir lieben uns.«
Fassungslos starrte Linus ihn an.
Ein trockenes Lachen entrang sich meiner Kehle. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie es in mir aufgestiegen war. Plötzlich war es da und es schmeckte bitter.
»Ihr wisst
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