Stadt aus Trug und Schatten
Unterarmen auf den Fußboden. »Der Weiße Löwe darf niemals in falsche Hände geraten«, sagte er ernst. »Aber der Diebstahl ist nicht alles. Da gibt es noch diese … andere Sache. Unten in den Stollengängen der Zechen. Es hat mit der Dunklen Materie zu tun, irgendwie scheint sie sich in letzter Zeit zu verändern. Das Ganze ist in höchstem Maße beunruhigend, so sehr, dass Christabel allein als Leibwächterin nicht mehr ausreichte. Ich musste Marian zu uns holen, damit auch du beschützt wirst.« Er senkte den Blick. »Er ist kein Austauschschüler, Flora. Wir haben dich belogen.«
»Ich weiß.«
»Ja, du hast es von Anfang an vermutet.« Er trocknete sich die Hände ab. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr so hilflos wie sonst. Etwas wie Entschlossenheit blitzte in seinen Augen. »Am Wochenende wird mein Regierungsstab hier in Essen zusammentreten und nach einer Lösung suchen. Danach sehen wir weiter.«
Ich hob eine Augenbraue. »Aber hältst du da nicht einen Vortrag an der Volkshochschule?«
»Ja«, sagte er. »Nach außen wird es so aussehen.«
Wieder einmal wurde mir schwindelig. »Du bist gar kein … also … Das mit den Fischen ist alles … Tarnung? Was hast du dann wirklich in Berlin gemacht?«
»Nein, nein!« Er schüttelte den Kopf. »In den letzten drei Tagen habe ich tatsächlich über Seeanemonen referiert. Ich sagte doch: Ich lebe zwei Leben.« Mit einem Seufzen nippte er an seiner Kaffeetasse. »Weißt du, das alles ist kompliziert. Ich bin der Fürst der Schattenwelt. Das heißt, ich regiere über Eisenheim. Jede Nacht. Aber auch am Tag werde ich mein Amt niemals los, denn in der realen Welt existieren die Wandernden schließlich auch. Im Verborgenen zwar, als geheime Gesellschaft. Doch auch hier bin ich ihr rechtmäßiger Herrscher.«
Ich nickte bedächtig, obwohl mir nicht so recht klar war, was das, was er sagte, bedeutete. Mein Vater, der die Fragezeichen in meinen Augen bemerkte, griff nach meiner Hand.
»Pass auf, ich zeige dir etwas«, sagte er und zog mich mit für ihn untypisch energischen Schritten in Richtung Arbeitszimmer. Ohne anzuklopfen, traten wir ein. Mein Vater steuerte geradewegs auf seinen Schreibtisch vor dem Fenster zu, während Marian, der anscheinend nur Boxershorts trug, sich verschlafen in seinem Bett aufsetzte. Ein Kopfkissenabdruck prangte auf seiner Wange, sein Haar stand wirr in alle Richtungen ab und unter der blassen Haut seines Oberkörpers erkannte ich die Wölbungen von Muskeln und Sehnen, deren Existenz ich bisher nur erahnt hatte.
»Was?«, nuschelte Marian und klang dabei auf süße Weise alarmiert.
Da ich mir allerdings nicht sicher war, ob ich noch mit ihm reden oder ihn für immer hassen würde, zwang ich mich, meinen Blick von ihm loszureißen und mich stattdessen zu meinem Vater umzudrehen, der gerade eine Reihe von Knöpfen des Alarmsystems betätigte, dessen Schaltstation sich in einer der Schubladen seines Schreibtisches befand. Allerdings öffneten sich daraufhin weder die vor den Fenstern angebrachten Riegel, noch durchschnitt eine zusätzliche Lichtschranke den Raum. Es war lediglich ein feines Knirschen zu hören, bevor – ich traute meinen Augen kaum – die Wand, hinter der sich eigentlich die Wohnung unserer Nachbarn befinden musste, wie eine Schiebetür auseinanderglitt.
Ein Raum von der Größe unseres Wohnzimmers kam dahinter zum Vorschein und ließ mich schlucken. Auch hier stand ein großer Schreibtisch. Auf ihm stapelten sich Tageszeitungen aus aller Welt. Doch statt von Bücherregalen wurden die Wände von Karten bedeckt, die alle Teile der Welt zeigten. Kontinente, Länder, Gebirgsketten, Wüsten, Halbwüsten, Regenwälder, Gletscher, Steppen, Großstädte. Und alle waren sie übersät mit blinkenden Punkten, die, wenn man genau hinsah, ganz langsam ihre Positionen veränderten. Mein Vater zog mich vor eine Deutschlandkarte, auf der sich etwa hundert Punkte bewegten.
»Jeder Punkt steht für einen Wandernden«, erklärte er.
Ich starrte auf eine Traube von leuchtenden Punkten mitten im Ruhrgebiet. War einer davon meiner? Welcher? »Warum beobachtest du all diese Leute?«
»Ich überwache sie nicht rund um die Uhr, wenn du das meinst.« Mein Vater lächelte traurig. »Aber wer die Fähigkeit besitzt, sich von seinem Schatten zu trennen, kann viel Unheil anrichten, Flora. Stell dir mal vor, welche Verbrechen jemand begehen könnte, der für alle anderen unsichtbar ist. Jemand, der fliegen kann.«
Banküberfälle
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