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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Unterpunkten bestand, und jeder wurde einzeln übersetzt. Fast alle von ihnen klangen irgendwie verwaltungstechnisch. Ich verstand nicht das Geringste von dem, was gesagt wurde. Die Langeweile kroch mit jedem Satz ein Stück weiter in mich hinein und breitete sich in mir aus wie ein Schlafmittel. Nach Punkt 23 hielt ich es nicht mehr aus, flüsterte meinem Vater zu, ich müsse zur Toilette, und stahl mich hinaus.
    Im Vorraum entdeckte ich den Inhalt der großen Kiste. Es war ein Modell Eisenheims, das aus mehreren Teilen zusammengesetzt worden war und neun aneinandergeschobene Tische einnahm. Fasziniert beugte ich mich über die Miniaturausgaben von schwarz-weißen Gebäuden und Straßenzügen. Die einzelnen Häuser waren so winzig, dass sie in die gelben Hülsen von Überraschungseiern hineingepasst hätten, und trotzdem maß das Modell über drei Meter in jede Richtung. Ich hatte mir die Schattenwelt zwar bisher nicht gerade klein vorgestellt, aber dass sie so weitläufig sein sollte, verschlug mir regelrecht den Atem.
    Es dauerte einen Augenblick, bis ich Notre-Dame entdeckte. Es gab einfach zu viele imposante Bauwerke, von denen die wenigsten mir bekannt vorkamen (was wohl daran lag, dass ich bisher nicht viel herumgekommen war, in keiner der beiden Welten). Natürlich erkannte ich den Buckingham-Palast und den Eiffelturm mitten in Graldingen, die Oper von Sydney und den Kreml gleich neben dem gewaltigen Gebäude, das das Backand sein musste. Und um die Sphinx, die Akropolis oder die Pyramiden zu verwechseln, muss man sich ziemlich anstrengen. Aber dann hörte es auch schon auf. Es gab so viele große Kirchen. Sicher war der Petersdom dabei. Und der Felsendom. Ja, war das fingerlange schwarze Ding dort nicht die Klagemauer?
    Mein Blick wanderte über ein Amphitheater und ein Nomadendorf in Krummsen, dessen fellbespannte Hütten nur halb so hoch wie mein Daumennagel waren, schweifte dann kurz über die schier endlosen Reihen der Arbeiterhäuschen im Krawoster Grund und die dahinterliegenden Schornsteine des Schlotbarons und blieb schließlich am silbrig lackierten Band des Flusses hängen, der sich von der einen zur anderen Seite quer durch das Modell wand und, das hatte Marian mir erklärt, von den Schattenweltlern morbiderweise »Hades« genannt wurde. Als wäre Eisenheim mit dem griechischen Totenreich vergleichbar!
    Doch es war nicht der Hades, der mich auf eine Idee brachte. Es waren die Brücken, die sich in unregelmäßigen Abständen über den Fluss wölbten wie die Tore beim Polo.
    Ohne lange darüber nachzudenken, wandte ich mich zur Tür und war im nächsten Moment schon auf den Flur hinausgelaufen. Mit dem gläsernen Fahrstuhl fuhr ich nach unten, dann eilte ich durch die sich allmählich füllende Fußgängerzone zum Bahnhof. Der Vormittag war kühl, es roch nach Herbst und den Tomaten, die der Gemüse- und Blumenstand in der Mitte der Straße verkaufte. In der Luft über mir war das Schlagen mächtiger Flügel zu hören. Man beobachtete mich also wieder.
    Ich zwang mich, nicht den Kopf in den Nacken zu legen, um mich zu vergewissern, dass es wirklich ein Schattenreiter war. Ich wusste es auch so und außerdem hatte ich mir vorgenommen, die Schergen des Kanzlers keines Blickes mehr zu würdigen. Vor allem nicht, nachdem ich herausgefunden hatte, dass die Schattenreiter immer nur dann in meiner Nähe auftauchten, wenn mein Vater nicht dabei war. Eine Tatsache, die sicherlich einen Grund hatte. Vielleicht sollte ich meinem Vater bei Gelegenheit mal von meinen Verfolgern berichten …
    Jetzt hatte ich allerdings anderes im Sinn. Zielstrebig stieg ich in die nächste S-Bahn nach Steele. Es war an der Zeit, etwas zu tun, anstatt immer nur zu warten, bis irgendwelche Erinnerungen zurückkehrten, auf die ich mir ohnehin keinen Reim bilden konnte. Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war gerade einmal halb zehn, so wie ich die Lage einschätzte, würde der Regierungsstab bestimmt ein paar Stunden benötigen, bis er bei den interessanten Themen (also denen, die mit der Dunklen Materie zu tun hatten) ankam, die standen nämlich zuletzt auf der Tagesordnung. Genug Zeit also, um selbst ein wenig Licht in diese ganze Geschichte zu bringen.
    Die Fahrt dauerte nur vier Minuten, weitere zehn Minuten später erreichte ich das Ufer der Ruhr. Ein Schwanenpaar zog seine Kreise im stahlgrauen Wasser, während am Ruderverein zwei Männer ein Boot die Böschung hinaufhievten. Jogger in neonfarbenen Trainingsjacken benutzten

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