Stadt der blauen Paläste
Ihr wenigstens nicht nur mit dem künstlichen Rosenduft vorlieb nehmen müsst.«
Sie hob die Rose an die Nase, sog ihren Duft ein, fragte sich, in welchen Gewächshäusern er sie wohl erstanden hatte und was er dafür hatte bezahlen müssen.
»Wisst Ihr eigentlich, was Ihr mir da neulich angeboten habt?«, fragte sie dann.
»Natürlich weiß ich das«, antwortete er rasch. »Ihr wollt nichts anderes als alle Leute hier auf dem großen Platz auch. Ihr wollt für kurze Zeit eine andere sein. Ihr wollt etwas über Euch erfahren, wozu Ihr sonst nie die Gelegenheit habt. Das wollen alle, die hier sind, auch wenn sie überhaupt nicht darüber nachdenken.«
»Es war ein mehr als seltsames Angebot, das Ihr mir gemacht habt«, meinte sie dann.
»Ich habe Euch kein Angebot gemacht«, wehrte er ab. »Ich fragte Euch lediglich, ob Ihr mit mir carnevale feiern wolltet. Was Ihr in diese Frage hineingeheimnist habt, ist Eure Sache.«
»Wenn es kein Angebot war, so wie ich es damals in meiner euphorischen Stimmung vor fünf Jahren allen möglichen Leuten gemacht hatte – ohne daran zu glauben –, was sollte es dann sein?«
»Ich wollte Euch nur die Gelegenheit geben, für die kommenden drei Tage und Nächte all das zu tun, was Ihr möglicherweise schon immer tun wolltet, ohne überhaupt zu wissen, dass Ihr es tun wolltet. Ihr dürft für eine Nacht oder einige Nächte all das erleben, was in Euch ist, tief drinnen in Euch, was Euch aber bisher immer verwehrt wurde. Von irgendjemandem verwehrt, Eurem Gewissen vielleicht, Eurer religiösen Haltung, Euren angezüchteten Moralvorstellungen. Ihr sollt etwas herauslassen dürfen, was Ihr normalerweise unter Verschluss haltet. Etwas, was Ihr vermutlich bisher immer nur sanft vor sich hin köcheln ließet, aber Euch nie zugestanden habt, es zum Kochen zu bringen. Dadurch erfahrt Ihr etwas über Euch.« Er hielt inne und schaute über den Platz. »Und natürlich auch etwas über mich.«
»Über Euch?« Sie sah ihn verblüfft an. »Woher wollt Ihr wissen, dass ich das will? Dass es mich interessiert? Dass ich etwas über Euch erfahren will?«
Er lachte, nahm sie leicht beim Arm und schob sie mitten in die Menge.
»Natürlich wollt Ihr das. Und wie Ihr das wollt. Ihr seid zweimal zur limonaia gefahren, um Eure Neugier zu befriedigen. Aber Ihr hattet nicht den Mut, die neue Besitzerin des Hauses nach dem Mann zu fragen, der mit beschmutzten Kleidern in ihrer Villa vermutlich den Kamin repariert hat. Ihr habt Euch beim Salzsteuerinspektor unserer Stadt erkundigt, ob es einen Salzsieder gibt, der auf dieser Insel, auf der Ihr mich vor kurzem abgeliefert habt, das Sagen hat oder wer sein Herr ist, und der Inspektor hat mir das unter Prusten erzählt. Und dann wart Ihr noch zu allem Überfluss auf einer Behörde, um zu erfahren, ob es jemanden gibt, der alte Paläste restauriert, Ihr habt so getan, als wärt Ihr an solch einem Mann interessiert, für Euren eigenen Palazzo natürlich und nichts weiter.«
Sie blieb stehen, begann mit einem Male laut zu lachen. Sie lachte, konnte das Lachen nicht mehr stoppen. Sie lachte so lange, bis das Lachen in Weinen überging und die Leute um sie herum böse Blicke auf Renzo warfen, weil sie annahmen, dieser Mann habe dieses schöne Mädchen, das nicht mal ein Kostüm trug, belästigt. Sie wusste nicht, wie lange sie an seine bautta hingeweint hatte vor Lachen, die Seide war bereits durchnässt, aber noch immer hielt Renzo sie an sich gepresst, schweigend. Er stand wie ein Fels in dieser wogenden, lärmenden Menge. Irgendwann gingen sie weiter, und es war ihr von einer Sekunde zur anderen gleich, wo und mit wem sie diese drei Nächte verbringen würde. Vielleicht war es ja wirklich an der Zeit, dass sie endlich erfuhr, was sie und Riccardo nicht getan hatten, obwohl sie es gegen das Ende zu auf der Pestinsel kaum ertragen hatten, dass sie es nicht getan hatten. Und es nun zu spät dazu war.
»Das ist im Augenblick das Haus, das ich am meisten liebe«, sagte Renzo irgendwann, als sie sich aus dem Gewimmel der Masken herausgeschoben und den Weg nach Castello eingeschlagen hatten.
Sie standen vor einem schmalbrüstigen Palazzo, fast zu schäbig, um den Namen Palazzo überhaupt zu tragen. Der untere Teil der Fassade zerfressen vom Meer, an der Vorderfront war eine Reihe von Lastkähnen zusammengekettet, in denen Reste von alten Mosaikböden, Trümmer von Kapitellen, behauene Steine, gesäuberte Ziegel, Mörtelwannen und abgedeckte Säcke lagen, die
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