Stadt der blauen Paläste
sie hatte die Stacheln gestellt wie ein Igel, bevor überhaupt jemand beabsichtigte, an diesen Igel nur zu denken. Sie hatte die Messlatte Riccardo angelegt, als sei es die Einzige, die überhaupt möglich sei. Als hätte niemand vor Riccardo in Padua studiert und als sei es nicht erlaubt, dass andere nach ihm in Padua studieren durften. Sie hatte ihn haben wollen, diesen Bruder, besitzen wollen mit Haut und Haaren und so, wie sie vor seinem Tod nicht bereit gewesen war, ihn mit irgendwem zu teilen, so war sie es nach seinem Tod schon gleich gar nicht. Und schon gleich gar nicht mit diesem Salzsieder.
Sie erreichten Torcello, ohne dass sie wusste, was sie tun sollte. Diese absurde Idee, die kommenden drei Karnevalstage mit diesem Mann zu verbringen, war zu verrückt, um überhaupt nur mit sich selbst diskutiert zu werden. Und für den Augenblick hatte sie ohnehin niemanden zum Diskutieren, da Lea mit einem Besuch aus Rom beschäftigt und Margarete im carnevale abgetaucht war.
Sie betrat die Kathedrale Santa Maria Assunta, blieb wie immer am Eingang stehen, um das Bild der Mutter Gottes aus der Ferne zu betrachten. Sie hatte dabei stets das Gefühl, als komme sie nach Hause, als warte hier in dieser Kirche diese Madonna auf sie, Crestina Zibatti, ganz persönlich, um ihr Rat zu erteilen und sie zu trösten.
Aber als sie die wenigen Schritte auf die riesige Tafelwand zugegangen war, niederkniete, hatte sie den Eindruck, als gelinge diesmal die stumme Zwiesprache zwischen der Madonna und ihr nicht. Voller Bestürzung wurde ihr klar, dass sie ihr Geld für den Ruderer umsonst ausgegeben hatte. Ihre Gedanken stürzten wie eine Affenherde über sie hinweg, sie hatte kaum Zeit für ein kurzes Gebet, geschweige denn für die Erklärung ihrer verworrenen Situation. Sie spürte, wie die Kälte langsam in ihren Körper kroch, in ihr emporstieg, als habe sie die Absicht, diesen Körper bis zur Spitze ihrer letzten Haarwurzel auszufüllen, dorthin zu gelangen, wo einstmals ihr Blut geflossen war.
Sie spürte mit Entsetzen, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte als an diesen Mann, der ihr da unerwartet über den Weg gelaufen war. Und dann warf sie ihn in ihrer Wut und ihrem Zorn mitten hinein in die Gruppe der Sünder des Jüngsten Gerichts, die über ihr an der Wand mit grausamer Genauigkeit abgebildet war.
Sie verließ die Kirche in Panik. Erst als sie bei ihrem Ruderer wieder eintraf, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass die blaue Madonna ihr zugelächelt hatte. Zaghaft, nicht wie sonst mit einem vollen Lächeln.
Die Tierhatz im Hof des Dogen war bereits vorüber, als sie die piazzetta erreichte. Sie sah, wie die Männer die Körper der toten Tiere herauszerrten, wie die Armen der Stadt bereits warteten, um ein Stück des begehrten Fleisches in Empfang zu nehmen. Sie wolle keinen toten Bären, sagte ein kleines Mädchen weinend zu seiner Mutter, der arme Bär tue ihr Leid.
»Du wirst ihn genauso essen wie das Fleisch des Stieres«, entschied die Mutter, »du kannst froh sein, dass der Doge so großzügig ist und auch an die Armen in dieser Stadt denkt in diesen Tagen.«
Crestina wusste, dass sie zu früh war, und sie hatte keinesfalls beabsichtigt, auf diesen Mann zu warten. Zudem war sie plötzlich unsicher, ob er überhaupt ›Säule des Markus‹ gesagt hatte, ob die piazzetta gemeint war oder die Piazza San Marco. Genau genommen, hätte sie ebenso gut auf dem Mond verabredet sein können wie hier inmitten der Menschenmassen, die aus aller Herren Länder kamen: Pilger, die sich zum Aufbruch in das Heilige Land versammelt hatten und auf günstigen Wind warteten, Mütter mit ihren Säuglingen, die winzige Masken auf ihren Gesichtern hatten und sie zum Teil klaglos ertrugen oder auch erbärmlich brüllten. Dazwischen mischte sich das laute Krachen der Kanonen, die von sechshundert Männern aus Friaul und von Kärtnern bedient wurden, und der Geruch des Rosenwassers, mit dem die Eier gefüllt waren, die in die Menge geworfen wurden, schwebte über dem Platz.
Am späten Nachmittag dann sah sie ihn. Er lehnte an einer der beiden Säulen von St. Markus, blickte suchend über den Platz hinweg und ging dann rasch auf sie zu, als er sie entdeckte. Er blieb vor ihr stehen, ein winziges Lächeln stahl sich in sein Gesicht, dann reichte er ihr eine rote, kaum erblühte Rose. »Damit Ihr wenigstens nicht nur mit dem künstlichen Rosenduft vorlieb nehmen müsst.«
Sie hob die Rose an die Nase, sog ihren Duft ein, fragte
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