Stadt der blauen Paläste
denn da drauf?«
»Ich weiß nicht, mit irgendetwas muss es doch zu tun haben.«
»Hast du vergessen, dass ich so aufgewachsen bin?«
»Ich erinnere mich nicht, dass jemand von uns in der Familie je so herumgelaufen wäre.«
Ludovico lachte.
»Ich schon. Clemens auch bisweilen. Aber wir haben es natürlich immer vor dir, vor euch, geheim gehalten.«
»Und jetzt?«
»Jetzt?«
Ludovico stand auf und zog einen kleinen Gebetsteppich unter den Kissen hervor.
»Nein, nein, so weit gehe ich nicht«, wehrte er ab, als er das entsetzte Gesicht seiner Mutter sah. »Wir bleiben alle ganz brave Katholiken. Aber Vater ist tot. Und was er sagte, galt und gilt.«
»Das heißt, was ich sage, hat keinerlei Bedeutung?«
Ludovico räkelte sich verlegen auf seinen Kissenbergen.
»So würde ich das nicht unbedingt ausdrücken«, meinte er dann vage, »aber immerhin ist nun doch alles anders, oder etwa nicht?«
Als Crestina spät am Abend auf der Terrasse stand und auf den Kanal hinunterschaute, grübelte sie über die Zeit, die sie mit ihrem Mann Renzo in den diversen Ländern verbracht hatte, und wie fest ihre Bindung an diese Länder noch war. In Zypern hatten sie nur kurze Zeit gelebt, in Alexandria länger, in Konstantinopel am längsten, weil Renzo sein Geschäft dort am besten führen konnte. Da er bei seinen Fahrten nicht jedes Mal seine Familie mitnehmen konnte, hatten sie dort ein Haus besessen, in dem es Gegenstände aus Venedig gab, sodass sie niemals eine völlige Entwurzelung verspürt hatte. Dass ihre Kinder, die nicht hier geboren waren, vermutlich alles anders sehen würden, damit musste sie leben.
Aber Crestina hatte Konstantinopel nie geliebt.
Sie hatte sich dort nie zu Hause gefühlt, nie sicher, auch wenn diese unzähligen Mauern und Festungen ihren Bewohnern dieses Gefühl hätten geben sollen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, in einem Käfig zu leben: eine gewaltige Seemauer, bereits in der Antike zum Schutz seiner Bewohner erbaut, nach der Landseite zu eine ständig erweiterte, gigantische Landmauer. Mauern, die im Laufe der Jahrhunderte Perser, Araber und Awaren abgehalten hatten.
Aber ihr Lebensgefühl war nie so gewesen, dass sie hätte sagen können: Heimat. Es war ihr stets alles fremd geblieben, und ihr Bemühen, diese Fremdheit zu überwinden, war ständig von einem Gefühl des Versagens begleitet. Sie hatte sich – schon kaum, dass sie richtig angekommen waren – gefühlt, als habe sie nur darauf gewartet, problemlos in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Ihre Mutter, die ihre Stiefmutter war und deren Lebensinhalt darin bestanden hatte, irgendwelchen Besuchern irgendwelche Dogengeschichten glaubte erzählen zu müssen, um die Einmaligkeit von Venedig auch ins rechte Licht zu setzen.
Sie, Crestina, erzählte nun stattdessen Sultansgeschichten, wobei ihre Besucher, meist Frauen von irgendwelchen Handelsherren, natürlich die Geschichten des Harems weit am meisten interessierten. Kriege ganz gewiss nicht. Und die Vielzahl der unterschiedlichen Kirchen und Moscheen und überbauten Kirchen und zu Moscheen gemachten Kirchen schon gleich gar nicht. Auch nicht die unterschiedlichen Namen der Stadt, wie lange sie Byzanz hieß und wann sie Konstantin, der erste römische Kaiser, der zum Christentum übergetreten war, in Konstantinopel umbenannt hatte. Dass die Stadt 1453 von den Türken erobert worden war und dass von da ab die Sultane in ihr regierten, war nur im Hinblick auf die vielen Frauen, die die Herrscher haben durften, interessant. Dagegen interessierte man sich sehr viel mehr dafür, wie man türkischen Kaffee zubereitete und ob das Kardamom zu Beginn der Zubereitung hineingegeben wurde oder erst am Schluss.
Sie lebte also in einem Sumpf von Tratsch und Klatsch, Geschichten, die von den Frauen heute als Neuigkeit erzählt wurden und morgen bereits von anderen Geschichten, interessanteren, überholt wurden. Gewiss, sie war die Frau eines Reeders, der etwas galt. Ein Mann, der nicht nur wegen seines Berufes angesehen war, sondern darüber hinaus auch als Mann interessant war, mit dem vermutlich jede der bei ihr zu Besuch weilenden Frauen ebenso gern verheiratet gewesen wäre. Aber Renzo war nicht interessiert an anderen Begegnungen. Er hatte diese eine Frau, Crestina, und sie genügte ihm, er liebte sie. Und Crestina machte sich daher auch keine Gedanken, was außerhalb ihres Hauses geschah, das sie nicht allzu oft verließ: Das Gewühle und Gewimmel dieser Stadt flößte ihr
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