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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Bedeutungen sich auf. Das dunkle Himmelsviereck übte einen Sog auf mich aus, es erinnerte mich an das viereckige Löwentor von Mykene, hinter dem für die Besiegte die Dunkelheit lauerte, jene endgültige Dunkelheit, von der mein nachtdunkles Himmelsviereck nur einen schwachen Vorgeschmack gab, doch nahm es mich mit, die Sinne schwanden, die Sinne schwinden, dachte ich noch, in mich gehen, warum denn nicht, tiefer, noch tiefer, die endgültige Dunkelheit, erwünscht, ja, manchmal erwünscht, die befreien würde von dem Zwang, alles sagen zu müssen. In diesen Schacht nicht wieder, das kann niemand verlangen, aber wer sagte mir denn, daß ich mich nach dem richten müßte, was andere verlangten, richten, ein schönes Wort, ich liebe diese doppeldeutigen Wörter, sich richten, gerichtet werden, das ist richtig. Gerechtigkeit, du Donnerwort. Tiefer. Noch tiefer. In den Wirbel gerissen, ausgespien werden. Stille. Im Auge des Orkans ist es am stillsten. Jetzt fallen lassen. Haltlosigkeit, ein Fallen ins Bodenlose.
    He, aufwachen!
    Aber ich habe doch gar nicht geschlafen!
    Sah aber verdächtig danach aus. Hast du wenigstens geträumt.
    Ich glaube ja.
    Und jetzt fahren wir noch zum Chinesen. Hast du Lust?
    Lust, gegen Mitternacht zum Chinesen zu fahren? Ich hatte immer Lust, erinnere ich mich. Die Platte mit den verschiedenen Speisen drehte sich inmitten des großen runden Tisches, angestoßen von unseren Händen. Ja, sie hatten recht: Dies war der beste Chinese in der ganzen großen Stadt. Es war spät, wir waren die letzten Gäste an unserem Tisch, der unser Stammtisch werden sollte. Der Besitzer des schlichten Lokals und seine zierliche Frau bedienten uns mit gleichbleibender undurchdringlicher Höflichkeit, mit jenem kleinen Lächeln, das abweisend oder einladend sein konnte, und mit einer Geschicklichkeit, die uns Europäern unerreichbar ist. So würde es jedesmal sein, so ist es jedesmal gewesen, wenn wir den langen Weg zu diesem entlegenen Lokal auf uns nehmen würden, auf uns genommen hatten. Wir priesen uns gegenseitig die verschiedenen Gerichte an, die wir bestellt hatten, wir kosteten von allen, wir tranken Reiswein, wir waren in guter Stimmung.
    Da kam Pintus auf die unselige Idee, mich zu fragen, merkwürdigerweise, wahrscheinlich aus Verlegenheit, auf Englisch: What about Germany?
    Die Frage hatte ich fürchten gelernt, sie bedeutete immer dasselbe: Wie erklärst du dir und uns die Fotos aus deutschen Städten, von denen die Zeitungen hier voll sind: Brennende Asylantenheime, antisemitische Inschriften an Häuserwänden, ein mit Eiern beworfener Präsident während einer Demonstration gegen Rassismus. Da waren alle eindringlich forschenden Blicke auf mich gerichtet und machten es mir unmöglich, einfach zu sagen: Aber ich weiß doch auch nicht. Ich kann es doch selbst nicht erklären. Es überrascht mich doch beinahe genauso wie euch.
    Aber auf dieses Beinahe kam es vielleicht gerade an. Dennhättest du nicht seit dem Tag, an dem du vor den mit »Judensau« beschmierten Grabsteinen von Brecht und Helene Weigel gestanden hattest, auf alles gefaßt sein müssen? Worauf denn aber? Darauf, daß die Leute aus der mecklenburgischen Kleinstadt, die immer so friedlich und geduckt und ein bißchen öde dagelegen hatte, eines schönen Tages nach der WENDE hinausziehen würden vor das Kasernengelände, das, mit sowjetischen Truppen besetzt, immer streng abgeriegelt und von Gerüchten umgeben abseits lag – Gerüchte, die nach dem Abzug der sowjetischen Truppen bestätigt wurden: Ja, hier, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, waren Atomraketen stationiert gewesen – daß also all die friedlichen Leute hinausziehen würden aus ihrem Städtchen und das Kasernengelände tage- und nächtelang besetzen würden, weil es in ein Übergangslager für Asylbewerber umgewandelt werden sollte und nicht, wie sie alle, die inzwischen arbeitslos waren, gehofft hatten, in ein Tourismuszentrum für diese landschaftlich paradiesische Gegend. Hätte ich mir vorstellen können, daß sie in Zelten leben würden, was sie seit ihrer Kindheit und seit ihrem Dienst in der Nationalen Volksarmee nicht mehr getan hatten? Und daß die Frauen ihnen in Thermosbehältern das Essen bringen würden in den friedlichen duftenden Frühsommerwald? Ob sie abends gesungen haben, fragte ich mich. Welche Lieder, das würde ich doch ganz gerne wissen.
    Sie seien nicht fremdenfeindlich, gaben die Einwohner der kleinen Stadt bekannt. Sie wollten auf ihre

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