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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Trostlosigkeit und gebremstem Aufbegehren wieder, das mich damals, vor vierzig Jahren, lange verfolgt hatte.
    Parteistrafe. Du solltest es nicht persönlich nehmen, sagte später ein Genosse zu dir, der in der Versammlung am schärfsten gegen dich gesprochen hatte. Aber wie anders hättest du es denn nehmen sollen. Es gehe ums Prinzip, hörtest du, und das war auch dir selbstverständlich, und du wärst die erste gewesen, die sich dagegen verwahrt hätte, daß deine Schwangerschaft in der Verhandlung irgendeine Rolle gespielt hätte. Strafmildernd, etwa. Dem Prinzip müsse der einzelne sich unterordnen. Da seien Härten unvermeidlich.
    Ich nehme das kleine rote Büchlein aus der Kassette, blättere darin, die vielen mit Beitragsmarken beklebten Seiten. Ich werde es nicht wegwerfen, es kommt in die Kassette zurück zu anderen ungültig gewordenen Papieren. Auf eine Gefühlsregung warte ich vergebens. Wann waren die Gefühle, die sich einst an diese Papiere geheftet hatten, ungültig geworden? Diese ganze Skala unterschiedlicher, widersprüchlicher, einander ausschließender Gefühle? Die im Lauf der Jahre verblaßt waren. Aber was heißt das, muß ich mich fragen. Ist nicht mein ganzer Gefühlshaushalt mit verblaßt? Verarmt? Wird er mein Lebensgefühl für den Rest des Lebens noch speisen können?
    Ich lief im Schlafanzug zu meinem Maschinchen und schrieb:

    es gibt mehrere gedächtnisstränge. das gefühlsgedächtnis ist das dauerhafteste und zuverlässigste. warum ist das so? wird es besonders dringlich gebraucht zum überleben?

    Ein Teil der Lust des Erzählens ist ja die Zerstörungslust, die mich an die Zerstörungslust der Physik erinnert, über die ich unter der Überschrift »Beamen für Fortgeschrittene« in der Presse las. Quantenphysiker haben also Atome dazu gebracht, einander über weite Entfernungen »etwas zuzuflüstern«, den »ursprünglichen Überlagerungszustand von Atom A auf Atom B zu übertragen« – was immer das heißen mag. Jedoch fasziniert mich am meisten die Mitteilung, daß der Physiker mit seiner Messung »den ursprünglichen Zustand zerstört«. Das erleichtert fast mein Gewissen, denn auch der Erzähler zerstört unvermeidlich einen »ursprünglichen Zustand«, indem er Menschen nüchtern beobachtet und das, was zwischen ihnen vorzugehen scheint, auf das gefühllose Papier überträgt. Aber diese Zerstörungslust, sage ich mir, hält sich ja die Waage mit der Schaffenslust, die neue Personen, neue Beziehungen aus dem Nichts entstehen läßt. Und was vorher da war, muß gelöscht sein.
    Abend für Abend, erinnere ich mich, saß ich vor dem Fernseher, wenn die Star-Trek-Serie lief, und erlaubte mir die Ausrede, ich müsse mein Amerikanisch vervollkommnen, wußte aber insgeheim, es war mein Bedürfnis nach Märchen, nach glücklichen Ausgängen, das mich festhielt, denn ich konnte sicher sein, daß die Star-Trek-Besatzung die edlen Werte der Erdenbewohner in die fernsten Galaxien tragen, sie gegen jeden noch so infamen Feind durchsetzen und dabei selbst nicht zu Schaden kommen würde.
    Das Telefon. Endlich eine Stimme, auf die ich schon seit Tagen wartete. How are you, Sally. Da kam eine fremde dunkle Stimme aus dem Telefon, die sagte: My heart is broken, und das war buchstäblich wahr. Ich begriff es, als ich Sally in ihremkleinen Häuschen gegenüberstand, weit weg vom Zentrum, in einer schwer zugänglichen Gegend. Da gab es weder Trost noch Hilfe, mehr war dazu nicht zu sagen, auch der Schrecken darüber, wie stark sie gealtert war, wie grau ihr Haar geworden war, das sie nicht mehr kurz und flott, sondern als wuchernden Haarbusch trug, war zurückzuhalten. Wie lange soll das dauern, fragte sie, und sie meinte ihre Besessenheit von ihrem Verlust. Es dauert, sagte ich, während ich in der winzigen praktischen Küche neben Sally stand, ihr zusah, wie sie Tomaten schnitt, Käse rieb, es dauert mindestens zwei Jahre, und ich erinnerte mich, wann das einmal ein Prager Freund zu mir gesagt hatte. Es war 1977, also anderthalb Jahrzehnte war es jetzt her, es war auf dem Weg vom Hradschin zur Altstadt, ein kalter, trüber und windiger Tag Anfang April, der Prager Frühling lag weit in der Vergangenheit, der Prager Freund hatte die Erfahrung des Absturzes in die Hoffnungslosigkeit mehr als zehn Jahre früher gemacht, du wußtest erst seit dem letzten Herbst, was es hieß, ohne Hoffnung zu sein, 1976, das schlimme Jahr. Im schrecklich kalten Dezember hattest du in einer Berliner Straße im

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