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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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heraushalten zu können, wieder einmal getrogen hatte.
    Dann saß ich an der Schmalseite des langen Eßtisches inmeinem Apartment, auf dem neuerdings mein Maschinchen stand, und schrieb:

    und wenn all meine geschäftigkeit, die verdammt nach fleiss aussehen soll, nichts weiter wäre als der versuch, das tonband in meinem kopf zum schweigen zu bringen. aber ich kann ja noch nicht wissen, welche untiefen in mir hier umgepflügt oder im gegenteil zugedeckt werden sollen.

    Das Telefon machte sich die Mühe, mich über einen Ozean hinweg zu ermahnen: Du bist doch jetzt ganz frei und kannst schreiben, was du willst. Also leg einfach los, was soll dir noch passieren. – Ja ja. – Du sollst dich nicht verteidigen, du sollst nur sagen, wie es war. – Ja ja. Verteidigen? Es waren zuerst nur solche einzelnen verräterischen Wörter.
    Dann versuchte ich einzuschlafen in meinem überbreiten Bett, das nicht mehr zu weich war, seitdem Herr Enrico ein Brett unter die Matratze gelegt hatte, nach dem meine Wirbelsäule dringlich verlangt hatte. Ich konnte nicht einschlafen, ich konnte das Bild der besudelten Grabstelle von Brecht nicht verscheuchen, ich konnte nicht aufhören, Gedichtzeilen zu memorieren:

    In Erwägung, daß ihr uns dann eben /
    Mit Gewehren und Kanonen droht /
    Haben wir beschlossen: nunmehr schlechtes Leben /
    Mehr zu fürchten als den Tod.

    Auf der Bühne oben die Schauspieler im Kostüm der Pariser Communarden, im Zuschauerraum ihr, die Jungen, die begeisterten Gesichter deiner Generation, die ihr das Schicksal der Communarden, das Scheitern, nicht an euch erleben würdet, da wart ihr euch ganz sicher, hohnlachend gegen alle Zweifler, dachte ich und konnte die Gesichter vor meinem inneren Augein Sekundenschnelle altern sehen, verkniffen, verbraucht, enttäuscht werden. Auch ängstlich, berechnend, dumm. Zynisch. Ungläubig und verzweifelt. Das Übliche. Nur uns hatte es erspart bleiben sollen. Welche Hybris.
    Zeitsprung. War es nicht hier gewesen, vor einem halben Jahrhundert, in dieser Stadt, wenige Kilometer von diesem Zimmer entfernt, in dem ich schlaflos lag, daß der Emigrant Brecht seinem Galilei, der uns, den damals Jungen, dann in der Gestalt des Ernst Busch begegnen sollte, daß er diesem Galilei den unbezähmbaren Wahrheitsdrang auferlegte. Kein Mensch könne auf Dauer einen Stein zu Boden fallen sehen und dazu sagen hören: Er fällt nicht. O doch, Brecht, wir können das fast alle. Und als wir Ihren Galilei verachten wollten, weil er schließlich abschwor, da fiel der Stein schon, vor unseren Augen, er fiel und fiel unaufhaltsam, und wir sahen ihn nicht einmal. Und wenn uns einer darauf hingewiesen hätte, hätten wir nur gefragt: Welcher Stein.
    Aber du hast sie doch gesehen, die Blumenverkäuferin, die sich in die Geschicke des Staates einmischte, das war im Herbst 1989, sie stand auf der Straße und verteilte Flugblätter, die sie selbst entworfen hatte, und ihren Gesichtsausdruck kanntest du von den Gesichtern der Schauspieler, welche die Communarden dargestellt hatten, ein helles, von Hoffnung und Entschlossenheit aufgerissenes Gesicht, das gibt es also, dachtest du, du wolltest es nicht vergessen, auch wenn der geschichtliche Augenblick, der solche Gesichter hervorbrachte, schrecklich kurz, eigentlich schon vorüber war. Ihn miterlebt zu haben, dachtest du, dafür hatte alles sich gelohnt. Und die Blumenverkäuferin sagte das gleiche mit den gleichen Worten.
    Irgendwann schlief ich ein, geriet wieder einmal in eine jener Traumversammlungen, die eigentlich Tribunale waren, diesmal im großen Hörsaal der Universität. Wieder wurde dein Name aufgerufen, du hörtest die scharfe Stimme das Wort »Dokument« sagen, du solltest Stellung nehmen zum Verlust deines Parteidokuments, das mitsamt deiner ganzen Brieftasche einemKaufhausdieb zum Opfer gefallen war. Das Heiligtum eines jeden Genossen, das er zwar immer bei sich zu tragen, zugleich aber zuverlässig vor Verlust zu schützen hatte. Ob du dir klar darüber seist, daß dieser Verlust Rückschlüsse zulasse auf dein Verhältnis zur Partei. Zögernd gabst du es zu, insgeheim bestrittest du es. Ob du nicht wüßtest, was die Genossen in der Zeit des Faschismus auf sich genommen hätten, um ihr Parteidokument zu bewahren und zu retten. Und was der Klassenfeind, in dessen Hände dein Dokument womöglich gelangt sei, für Mißbrauch damit treiben könne. Ja! hörte ich mich schreien, während ich erwachte. Ich erkannte das Gefühl von

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