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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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als Student in Boston antiquarisch erworben und wolle sie behalten. Wir redeten über die anderen Bücher, über Preise, Versandmöglichkeiten, alles ging problemlos. Dann kehrte ich zu den Zeitschriften zurück: Ob er sich nicht doch entschließen könne … Mr. Kline wiegte den Kopf. Er hätte sie mir nicht zeigen dürfen, meinte er. Ich sagte, ich könne sie für meine unmittelbare Arbeit gebrauchen, das möge er bedenken. Für ihn, sagte er, hingen wertvolle Erinnerungen an diesen Heften. Ich spürte einen Hauch von Unentschiedenheit in seinem Ton und stieß nach. Eine Pause entstand. Schließlich wendete Mr. Kline sich mir zu und sagte: But they are very expensive!
    Sehr teuer, selbstverständlich. How much? fragte ich. Mr. Kline sah mich nachdenklich an, während er sagte: One thousand dollars.
    Er wollte nicht verkaufen. Er wollte mich prüfen.
    Ich verstand, daß ich bezahlen mußte, aus vielerlei Gründen. Ich sagte: I’ll take them. They are more important than a new car.
    Mr. Kline schien überrumpelt. Eine Pause entstand. I agree, sagte Mr. Kline schließlich, lachte und umarmte mich fest. Ich würde noch zur Bank gehen müssen. Die drei Hefte gab Mr. Kline mir mit, ich ließ sie nicht mit den übrigen per Luftfracht nach Hause schicken. Den Kauf habe ich nie bereut.
    In meinem Apartment legte ich mich auf das Bett und blätterte in den Nummern des WORT. Ich las Grußworte von Thomas Mann und Hemingway. Ich las von Erich Weinert seine Erinnerungen an die Gesichter der in Spanien gefallenen Genossen. Wer denkt noch an sie, sagte ich zu Ruth und Peter Gutman, mit denen ich mich am nächsten Tag traf. In diesem neuen Deutschland werden sie dem Vergessen überantwortet. Aber das war es doch, warum ich an dem kleineren Deutschland hing, ich hielt es für die legitime Nachfolge jenes Anderen Deutschland, das in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern, in Spanien, in den verschiedenen Emigrationsländern, verfolgt und gequält, schrecklich dezimiert, doch widerstand.
    Ich konnte es mir nicht versagen, ihnen das dickste Heft von WORT aufzublättern, in grauem angegriffenen Umschlag mit roter Schrift, stark vergilbte Seiten, eine Doppelnummer von April / Mai 1937. Mit diesem Fund hatte ich besonderes Glück: Die Redaktion hatte alle ihr erreichbaren antifaschistischen emigrierten deutschen Schriftsteller um »biografische und bibliografische Mitteilungen« gebeten und druckte ihre Antworten auf fünfzig Seiten ab, hundert Autoren, von denen ich achtundzwanzig persönlich gekannt habe, sagte ich zu Peter Gutman und Ruth, ihre Gesichter zogen an mir vorbei, ihre Schicksale, ihre Schriften. »Diese Bücher wurden inDeutschland verbrannt«, »diese Bücher sind in Deutschland verboten« steht unter jedem der kurzen Texte. Als dieses Heft erschien, sagte ich, war ich acht Jahre alt, ich las leidenschaftlich Grimms und Andersens und Hauffs Märchen, vielleicht hat mich das vor dem Schlimmsten bewahrt. Ob diese Märchen einen Grund legen können für eine Anteilnahme gegen Unrecht? Für das Unterscheidungsvermögen von Gut und Böse?
    Du hast niemals ein offenes Wort der Kritik am Führer gehört, hast nur zweifelnde, besorgte, gegen Ende des Krieges immer mehr verzweifelnde Mienen deiner Mutter wahrgenommen, die hatte – das muß 1943/44 gewesen sein – zu einer Kundin, der sie vertraute, gesagt: Den Krieg haben wir verloren! Sie wurde angezeigt, und daraufhin war sie mehrmals von zwei Herren in Trenchcoats besucht und verhört worden. Angst hatte die Eltern erfüllt, das wollte man dir verheimlichen, allerdings erfolglos.
    Vor uns auf dem Tisch lag das Buch von Paul Merker, das ich auch bei meinem Antiquar gefunden hatte, ein dicker Band von 574 Seiten, in braunes Leinen gebunden, Verlagsangabe: Editorial »El Libro Libre« Mexico, 1945. Sein Titel: »Deutschland – Sein oder nicht sein?« Ich kannte den Leiter dieses Verlags, Walter Janka, sagte ich zu meinen Besuchern, ein überzeugter Kommunist aus einer Arbeiterfamilie, der nach 1933 illegal gearbeitet, in einem Nazizuchthaus gesessen, in Spanien als Kommandeur bei der spanischen Volksarmee gekämpft hat, nach dem Sieg Francos in französischen Lagern interniert war. Unter anderem in Les Milles, sagte ich.
    Da bist du gewesen, von Marseille aus, wo ihr versucht habt, den Spuren nachzugehen, die Anna Seghers in ihrem Roman «Transit« gelegt hatte. In Les Milles war kein Mensch, das Gebäude, in dem die Internierten gehaust hatten, zugesperrt, ihr blicktet

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