Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
und hätten verkündet, sie hätten dort eine Chlorfabrik, wenn sie die in die Luft sprengen würden, reichte das Gift aus, um ganz Europa zu verseuchen.

    manchmal möchte ich doch wissen, wie die zeitschichten, durch die ich gegangen bin und die ich in gedanken so mühelos durchstosse, in meinem innern angeordnet sind: wirklich als schichten, säuberlich übereinander? oder als eine wirre masse von neuronen, aus der eine kraft, die wir nicht kennen, den jeweils erwünschten roten faden herauszieht? werden die neurowissenschaftler das je herausfinden?

    Ich suchte Ablenkung, ich spürte im Genick das Abreisedatum und mußte mir sagen, daß ich mich zu wenig oder gar nicht um wichtige Besuchermagneten, die jedermann mit dem magischen Namen Los Angeles verbindet, gekümmert hatte. Bob Rice war derselben Ansicht, man könne nicht hier gewesen sein, ohne wenigstens eines der berühmten Hollywood-Studios besichtigt zu haben. Allan, sein japanischer Freund, der »hinter den Kulissen« von Universal Studios arbeite, werde mich führen. Tag und Stunde waren ohne mein Zutun verabredet – eine der Unternehmungen, bei denen sich bis zuletzt in mir Antrieb und Hemmung miteinander stritten und letzten Endes die Höflichkeit gegenüber dem Begleiter die Oberhand behielt. Ein Schweizer Kollege kam mit uns, ein Literaturkritiker, ich las seinem Gesicht bei der Begrüßung dieselbe Skepsis ab, die ich empfand. Und Allan schien fast etwas wie Verlegenheit zu spüren, als er uns zu den Eingängen, zu den vielen tunnelartig glasüberdachten Rolltreppen führte, die pausenlosTouristen hinuntertransportierten zu der »Tour«, der wir uns anschlossen. »Welcome to the largest film and television studio in the world. Here you don’t just watch the movies – you live them. The real star is you.« In Gondeln fünfzig Minuten durch Kulissenstädte, verstreut auf einem riesigen Gelände, vorbei an den Schauplätzen berühmter Filme, gerade der Filme, sagte ich zu Allan, die ich nicht als »mein Genre« bezeichnen würde. Schade, sagte Allan, aber ich hatte ihn nur darauf vorbereiten wollen, daß ich die berühmten Filme und ihre Schauplätze vielleicht nicht erkannte. Oder daß ich vorzeitig abbrechen würde, weil mir die »Tour« jetzt schon auf die Nerven ging, mehr wegen der bedingungslos begeisterten Teilnehmer als wegen der stummen Zeugen rechts und links der Strecke.
    Aber »Psycho« würde mir doch etwas sagen! Tatsächlich stand da, unheimlich beleuchtet, das Gruselhaus, und später würde man uns noch die Kameraführung bei der berühmten Mordszene in der Dusche zeigen, zuerst aber ging es weiter, E.T. tauchte vor uns auf mit seinem Sehnsuchtslaut. »Quick! Hop aboard a starbound bike! And fly home with E.T.«, das taten wir, flogen also zunächst in den Weltraum und gerieten, kaum zurück, in verschiedene Gefahrensituationen, nachgestellt aus Filmen, die ich nicht kannte und nicht kennen wollte: Eine Brücke stürzte unter uns ein, in einer Metro-Station erlebten wir ein Erdbeben, Autos stürzten in die Tiefe, die Mitfahrenden kreischten, in einem Weiher erschien gefahrdrohend die Rückenflosse eines Hais. Am besten war noch der Schneetunnel, in dem man sich plötzlich zu drehen begann, aber es waren die Wände, die sich um uns drehten. Das sollte man sich merken, wenn man denkt, man ist mitten im Strudel und wird in die Tiefe gerissen, dann sind es vielleicht nur die Wände, die sich um einen drehen, und man selber ist im Auge des Orkans.
    Aber wie unterscheidet man dann in Zukunft Täuschung von Realität? fragte ich.
    Daß du genau das verlernst, dazu ist diese ganze Einrichtung gemacht, sagte unser Schweizer. Aber die Gefühle, die durchTäuschung in uns ausgelöst werden, sind echt. Für diese Gefühle bezahlen wir.
    Und wir hatten noch für eine ganze Menge Vorführungen von Stuntmen bezahlt, zu Wasser und zu Lande, mit Pulverdampf und Knallerei und Feuer und Explosionen, und für einen ostasiatischen Schwerterkampf vor einem Drachen, aber schließlich gab es auch eine Halle, in der Tricks entschlüsselt wurden, zum Beispiel, wie man es anstellen muß, jemanden auf der Freiheitsstatue herumklettern und am Ende abstürzen zu lassen, was ja Hitchcock gemacht hat.
    Erschöpft saßen wir dann, es war schon Abend, oben auf dem Berg in dem wunderbaren japanischen Restaurant, von dem aus man über die ganze weit hingebreitete Stadt blickt, in der allmählich die Lichter angingen, das ist unglaublich, sagten wir, unvergeßlich, und

Weitere Kostenlose Bücher