Stadt der Engel
einer, der noch die Welt verändern wollte. Lohnte es sich denn? Stewart sagte zu mir: Ich hoffe, ihr gebt nicht auf. Ich dachte, ich will mir merken, daß ein junger Amerikaner diesen Satz zu mir gesagt hat, und ich merkte es mir tatsächlich, und wenn ich heute diesen Satz in mir aufrufe, kann ich das Licht sehen, das vom wolkenlosen Nachmittagshimmel in die Third Street fiel. Erst später wurde mir klar, daß Stewart mich zu einem Abschiedsessen eingeladen hatte. Wenige Tage danach war er verschwunden, er habe seinen Aufenthalt im CENTER früher abbrechen müssen, hieß es. Er hatte sich von niemandem verabschiedet. Ich fand in meinem Postfach einen Zettel von ihm: Don’t worry.
Er hat mich also in das Antiquariat zu Eric Chaim Kline geschickt, in dem es so dunkel war, wie es in Antiquariaten sein soll, und in dem alle Wände und noch ein paar Tische mit Büchern bedeckt waren. Englische, französische, sogar russische. Schließlich fand ich hinten links in der Ecke das deutsche Regal und begann, die Buchreihen abzusuchen. Ich schlug das eine oder andere Buch auf und las Namen und Jahreszahlen: Hier war die Hinterlassenschaft deutscher Emigranten abgeblieben, die in der Fremde gestorben waren oder die zurückkehren konnten und Gepäck hierlassen mußten, das sie einst aus Europa mitgebracht hatten. Oder wie sonst war ein umfangreicher, in rotes, jetzt abgegriffenes Leinen gebundener Roman von Vicki Baum hierher geraten, »Liebe und Tod auf Bali«, erschienen 1937 im Emigrationsverlag Querido in Amsterdam. Den Titel hatte ich nie gehört, aber erst kürzlich war ich anVicki Baums riesigem Haus am Amalfi Drive vorbeigefahren. Sie war, scharfsinnig den Charakter des Nationalsozialismus voraussehend, früh aus Deutschland emigriert und eine der wenigen, die auch in den USA Erfolg hatten und ein luxuriöses Leben führen konnten. Ich blätterte in dem Buch, da trat ein sehr höflicher junger Schwarzer zu mir, mit der obligatorischen Frage: Can I help you? Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, was ich suchte. Wait a moment! sagte er, und wenige Minuten später kam ein älterer, rüstiger Herr, weißhaarig, eine schwarze Kippa auf dem Kopf, er mußte der Besitzer sein. Geduldig hörte er sich mein Anliegen an: Literatur von deutschen Emigranten, die hier gelebt hatten. Er verstand. Ich solle morgen nachmittag wiederkommen, er glaube, er habe etwas für mich. Den Vicki-Baum-Band ließ ich mir zurücklegen.
Der nächste Tag, ein Tag im Juni, war wieder ungewöhnlich heiß. Der alte Antiquar, Mr. Kline, führte mich eine Holztreppe hoch, zu einem langgestreckten Speicherraum, direkt unter dem Dachgebälk, in dem Tausende von Büchern an den Wänden, auf dem Boden, auf langen Tischen gestapelt waren. Die Hitze war unerträglich, in einer Sekunde stand ich unter Schweiß. Es roch nach heißem Papier und nach heißem Holz. Wenn es hier einmal brennt! dachte ich. Der Antiquar hatte auf einem der Tische eine Ecke frei geräumt und dort die Bücher ausgelegt, die er mir anbieten wollte. Er ließ mich allein.
Die Bücher, die ich an jenem Nachmittag zum ersten Mal sah, sind jetzt um mich herum aufgebaut, ich nehme sie in die Hand, und etwas von der Stimmung, die mich damals erfaßte, kommt zurück. Obenauf liegt das Bändchen »Der Mensch ist gut« von Leonhard Frank, ein roter Pappband mit Leinenrücken, offensichtlich alt, abgenutzt, vergilbtes Papier, beim Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam erschienen, ohne Erscheinungsdatum, aber mit dem Hinweis: »Geschrieben 1916 bis Frühling 1917«, und mit der Widmung: »Den kommenden Generationen«, ein Pathos, das im Zweiten Weltkrieg nicht mehr aufgekommen wäre, dachte ich und sah schon beimersten Blättern, dem Titel zum Hohn, daß der damals blutjunge Schriftsteller ein fulminantes Antikriegsbuch geschrieben hatte, das an Drastik und grausamen Schilderungen von den späteren, bekannteren Büchern der zwanziger Jahre nicht übertroffen wurde. Warum war es vergessen worden? Remarques »Im Westen nichts Neues« konnte nicht aufwühlender sein, das auch dort lag, beschädigt, ohne Einband und ohne Verlagsangabe, aber offensichtlich die gleiche Ausgabe, die du rätselhafterweise bei deiner Großmutter gefunden und auf ihrem Sofa gelesen hattest. Oft habe ich mir gesagt, das kann nicht sein, nie sahst du deine Großmutter etwas anderes lesen als den »Landsberger Generalanzeiger«, und wie sollte ein verbotenes Buch sich zu ihr verirrt haben, und doch fühle ich noch die rauhe
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