Stadt der Engel
Armlehne ihres Sofas in der Hand, während du aus jener Lektüre Greuelbilder in dich aufnahmst, an die ich mich bis heute zu erinnern glaube. Ebenso wie an den Spruch, der, in gotische Lettern gesetzt und schwarz gerahmt, an der Wand hing, den du oft und oft lasest, der dich jedesmal traurig stimmte und von dem ich eine Zeile behielt, deren Ursprung ich viel später erst fand: »Ich hatte einst ein schönes Vaterland.« Heinrich Heine, weiß ich heute. Wie kam ein Gedicht von Heinrich Heine zu meiner Großmutter? Ich hatte einst ein schönes Vaterland. / Der Eichenbaum / Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. / Es war ein Traum. – Stand der Name des Dichters etwa unter dem Text? Wohl kaum. Auch ein Emigrant. Auch einer, der Heimweh hatte. Wie jener, der in das Buch von Erich Kästner, »Ein Mann gibt Auskunft«, das auf der Ecke jenes langen Tisches lag, die Widmung an einen Schicksalsgefährten schrieb: »Liebster Paul, Merry X-Mas – Dieses Buch soll Dich unsere alte Sprache nicht vergessen lassen. Herzlichst Walter.«
EIN SOG GING VON DIESEN BÜCHERN AUS
EIN SOG GING VON DIESEN BÜCHERN AUS Noch einmal gerate ich in diesen Sog, indem ich mich in die Bücher vertiefe, welche die Emigranten später, sich erinnernd, nach ihrer Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland oder eben nach ihrer Nicht-Rückkehr geschrieben haben. Die Ludwig Marcuse und Leonhard Frank und Curt Goetz und Carl Zuckmayer, Marta Feuchtwanger und Erich Maria Remarque – die Bücher, die nach einer Internet-Recherche noch antiquarisch aufzutreiben sind, da die meisten von ihnen seit Jahrzehnten nicht wieder aufgelegt wurden. Meine Arbeit stockt, während ich mich in diese Texte vergrabe. Ich suche die Stellen, an denen ihre Autoren beschreiben, was das Exil ihnen angetan hat. Was es hieß, wurzellos zu sein. Und zu erfahren, daß niemand, kein Einheimischer in ihren Exilländern und erst recht keiner ihrer ehemaligen Landsleute, ermessen konnte, wie die Jahre in dieser Schattenexistenz sie veränderten. Und ich lese erneut jene Erzählung, die ich auch im Antiquariat von Mister Kline gefunden hatte, veröffentlicht in einer Reihe unter dem Namen »Pazifische Presse«, von Emigranten gegründet, die ich vorher nicht gekannt hatte: »Mein ist die Rache« von Friedrich Torberg.
Genau erinnere ich mich an die amerikanische Nacht, in der diese Erzählung, eine der frühesten, welche die Zustände in einem deutschen Konzentrationslager schildert, mich schlaflos machte, weil da die sadistischen Torturen, die von dem SS-Führer Wagenseil jüdischen Häftlingen angetan werden, in solcher Kraßheit beschrieben wurden, wie ich sie noch kaum vorher gefunden hatte. Auf einer, wenn man so will, philosophischen Ebene geht es um die Frage, ob ein gläubiger Jude berechtigt ist, die Rache an seinem Peiniger, die eigentlich »des Herrn« ist, selbst auszuüben. Der Ich-Erzähler hat es getan, er hat den SS-Mann erschossen, das Unwahrscheinliche, die Flucht nach Holland, dann in die USA, ist ihm geglückt, und nun steht er in New York am Hafen und wartet auf jedes Schiff ausDeutschland, ob nicht einer von den fünfundsiebzig Kameraden, die er in jener Baracke zurückgelassen hat, an Bord ist, entkommen wie er selbst. Bis aufs Blut quält ihn die Vorstellung, sie könnten alle ermordet worden sein, als Vergeltung dafür, daß er diesen SS-Kommandanten getötet hat.
Zusätzlich erschütternd in meinem Exemplar: Auf den angegilbten Seitenrändern des schmalen Bändchens war der gedruckte Text mit Bleistiftanmerkungen versehen, die von einem jüdischen Leser, einem Emigranten, stammen mußten. Sie begleiteten die düsteren Vorgänge der Erzählung mit Kommentaren, Ausrufen, verspäteten Ratschlägen. Und unter den letzten Satz hatte dieser Leser geschrieben: »America ist voll von Juden die Deutschland lieben und Sehnsucht haben.«
Ich sehe mich ja noch auf dem heißen Bücherboden von Mister Kline, der Turm der Bücher, die ich mitnehmen wollte, wuchs, bekannte Namen, unbekannte Titel von Arnold Zweig, Leonhard Frank, noch einmal Vicki Baum, Bruno Frank. Aber am meisten weckten drei unscheinbare, graue, etwas zerlesene Zeitschriften meine Begehrlichkeit, drei Ausgaben vom WORT aus den dreißiger Jahren, der Emigrantenzeitschrift, die in Moskau erschienen war. Die möchte ich haben, sagte ich zu Mr. Kline, als er wieder zu mir trat. Er lächelte zufrieden: Ja, das glaub ich, sagte er. Aber gerade diese drei Stücke seien unverkäuflich, er habe sie selbst
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