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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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verborgen blieb. Ich hatte mich nie nahe herangetraut. Therese wollte das Grundstück betreten, wir hielten sie zurück. Sie habe doch wenigstens das Fenster sehen wollen, hinter dem er, in seiner Sofa-Ecke sitzend, seinen »Faust« geschrieben habe. Und ich mußte mich wieder fragen, ob es denn sein konnte, daß im schmalen Bücherschrank meiner Eltern im »Herrenzimmer« hinter »Volk ohne Raum« von Hans Grimm und hinter den Büchern von Karl Albrecht, »Der verratene Sozialismus«, und von Edwin Erich Dwinger über »Die Armee hinter Stacheldraht« in der zweiten Reihe wirklich die »Buddenbrooks« gestanden hatten, wie ich mich zu erinnern glaubte. Ich mußte mich irren, sagte ich mir wieder; denn dann hättest du sie doch damals schon gelesen, weil du alles Gedruckte lasest, was dir in die Hände kam.
    Kann es sein, daß ich auch den Namen Marlene Dietrich nicht gekannt habe? Ist in meiner Gegenwart nie die Rede gewesen vom »Blauen Engel«? Therese waren alle Häuser vertraut, die die Dietrich in dieser Stadt bewohnt hatte. Franz Werfel? Die Komponisten, die Schauspieler wollte ich erst gar nicht erwähnen. Ein dichtes Netz deutscher Kultur hatte sich in den dreißiger Jahren über dieser Stadt ausgebreitet. Nichts davon war geblieben. Ich weiß nicht, sagte ich, wieviele der heute Zwanzigjährigen diese Namen kennen.
    Was willst du, sagte Peter Gutman. Vergessen werden ist das Normalste auf der Welt. Und du und ich und Therese, wir vergessen sie doch nicht.
    Wir waren müde, erschöpft, hungrig. Therese ließ sich nicht auf unsere Klagen ein, sie hatte eigene Pläne. Sie steuerte den Hollywood Boulevard an und brachte uns zu MUSSO AND FRANK, wo amerikanische Autoren wie Hemingway, Faulkner, Fitzgerald, aber eben auch viele deutsche Emigranten sich getroffen hätten. Von Brecht zum Beispiel wisse man es. Ich liebe solche Stätten, wir ließen uns in einer der Nischen nieder, auf den roten Sitzen, die es seit Anbeginn in diesem Restaurant gegeben haben soll, wir musterten aufdringlich die anderenGäste, ob nicht ein bekanntes Gesicht darunter wäre. Auch die Speisekarte habe sich nicht geändert, erfuhren wir, also bestellte ich ein Kotelett, das wie erwartet einen maßlosen Appetit vorausgesetzt hätte, aber an diesem Ort konnte nichts mich stören.
    Nach einer Weile sagte Therese, sie habe sich als junges Mädchen oft gewünscht, bei anderen Eltern und woanders geboren zu sein. Nicht in diesem schrecklichen katholischen Internat eingesperrt zu sein. Wir könnten uns nicht vorstellen, welchem Zwang sie da ausgesetzt gewesen sei, mit welcher Härte der alleinseligmachende Glaube durchgesetzt wurde. Sie hasse die Kirche seitdem, sie könne nicht anders. Sie habe damals eine Überdosis von Religion abbekommen. Sie müsse immer lachen, wenn sie höre oder lese, wie die Kinder in der DDR indoktriniert worden seien.

    Ich weiß nicht, warum ich das Antiquariat in der Second Street so spät erst besuchte. Ich glaube, Stewart, der einzige schwarze Scholar in unserer community, empfahl es mir. Wir saßen vor dem Café Largo und aßen Seafood-Salat. Stewart war von den scholars in unserem Jahrgang derjenige, der sich am meisten abseits hielt, ein Einzelgänger, der mich aber eben deshalb und wegen einiger verhaltener Reaktionen in unseren Diskussionen lange schon interessierte. An einem Verziehen der Mundwinkel, am Zucken einer Augenbraue konnte man manchmal Spott oder Kritik an unseren Gesprächen ablesen. Als einziger von den Amerikanern in unserer Gruppe lebte er in Los Angeles, von allen stand er am meisten links und konnte die Verhältnisse in dieser Stadt am realistischsten einschätzen. Er komme aus der Gewerkschaftsbewegung, sagte er, allerdings aus einer Splittergruppe. Die großen »weißen« Gewerkschaften kümmerten sich nämlich nicht darum, wie die Konzerne die mexikanischen Arbeiter ausbeuteten, oft bekämen sie überhaupt nichts bezahlt, wenn sie illegal eingewandert seien. Er forsche als Soziologe, wie die Unternehmer mit Hilfe des Marktes dieArbeiter ethnisch und rassisch auseinanderdividierten und wie ihnen die Gewerkschaften dabei halfen. Wie rassistisch die Vergabe von Wohnraum, der Verkauf von Häusern gehandhabt werde, das sei illegal, aber jeder wisse es, jeder tue es. Er strebe eine multikulturelle Gesellschaft an, arbeite mit Gruppen in den Vierteln der Farbigen, er wolle sie politisieren. Dafür müßten sie erst mal verstehen, in was für einer Gesellschaft sie eigentlich lebten.
    Da war

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