Stadt der Engel
aber, am Schwarzen Meer, nahm sie euch Neulinge unter ihre Fittiche und weihte euch mit ihrem durchdringenden rauhen Baß in die Sitten des Ortes und in die juristischen Verhältnisse des Landes ein. Die waren allerdings undurchdringlich für einen Fremden, Marja Sergejewna aber durchschaute sie von Grund auf und ließ ihre russischen Klienten nicht im ungewissen darüber, daß sie als ihre Verteidigerin höchstens ein mildes Strafmaß von fünf Jahren anstatt eines von zehn Jahren für sie herausschlagen konnte, dazwischen gibt es nichts, trompetete sie über den Strand, und wenn sie die fünf Jahre schaffte, dann brachten ihr die Angehörigen des Verurteilten Geschenke, das fand sie knorke. SolcheWörter hatte sie aufgelesen, als sie in den zwanziger Jahren in Berlin gewesen war, die allerschönste Zeit ihres Lebens, und für mich vermischt sich die Erinnerung an das Schwarze Meer immer mit Marja Sergejewnas Stimme und mit einer beträchtlichen in Pergamentpapier und in eine Nummer der »Prawda« eingewickelten Portion Kaviar, die sie an den Hintereingängen der großen Moskauer Restaurants bei den ihr verpflichteten Köchen für euch einsammelte, um sie euch in den Flieger nach Berlin mitzugeben.
Oder die Bretagne. Rauhe, verregnete Tage an einem rauhen grauen Meer, liebliche Farben und helle warme Strände in der Normandie. Von Lissabon und Cannes, und vom Rand Siziliens aus einen Blick auf das Mittelmeer werfen. Und nun der Pazifische Ozean. War es genug?
Dabei sind die Seen noch nicht einmal erwähnt, in denen du lustvoll geschwommen bist, der frühe Heimat- und Ausflugsee der Kindheit, die Seen um Berlin, die wunderbaren Mecklenburger Seen. Der eine, der zu einer Art Heimatsee geworden ist, an dessen Ufer, entfernt von der Badestelle, früher die Kühe der Genossenschaft, jetzt die der GmbH zur Tränke kamen und an dessen anderem Ufer die Forellenzuchtanlage war, die jetzt auch aufgegeben ist. Der sauber ist, und so tief, daß an seinem Grund die Maräne lebt, der empfindliche wohlschmeckende Fisch, den man nicht transportieren kann. An seinem Rand haben in einem Sommer die Kinder Krebse gefangen.
Ach ja, der Zürichsee, an dessen Ufer ihr euch entschloßt, dahin zurückzugehen, woher ihr kamt. War es genug?
Ich hatte nicht gewußt, daß ich mein Leben mit einer Geschichte der Gewässer verbinden könnte, in denen ich geschwommen bin oder an denen ich stand, denn nun kamen unaufhaltsam noch die Flüsse mancher Länder aus meiner Erinnerung ans Licht. Wer wird die Wipper kennen, ein Bach an einem thüringischen Ort, in dem ihr nach dem Krieg Wohnung fandet, aber fast jeder kennt die Pleiße, die stinkende Schaumkronen mit sich führte, als du in Leipzig studiertest, später inHalle an der Saale hellem Strande wohntest. Dann kam schon die Spree, immer wieder und bis heute die Spree, immer wieder und zu verschiedenen Zeiten die Weidendammer Brücke, erwartungsvoll, freudig, traurig, gehetzt, angstvoll hast du sie überquert. Soll ich die lustige Panke erwähnen? Gewiß aber die Elbe bei Dresden, im Abendlicht, unvergleichlich, wenn die tiefstehende Sonne von Westen direkt in ihr Flußbett einfällt. Die Donau, die nicht blau ist und die nicht mehr mitten durch Wien fließt, wohl aber durch Budapest, deine erste ausländische Stadt. Aber die Moldau, an deren Grund die Steine wandern und die so vieles gesehen und gehört hat, was für dein Leben wichtig war. Der majestätische Rhein, bewundert, ein fremder Fluß. Die flinke lächelnde Seine, die behäbige arbeitsame Themse. Der Tiber in Rom. Und die unvergeßliche Newa in Leningrad in den hellen Nächten, wenn die Abiturientinnen in ihren weißen Kleidern und die Abiturienten in ihren dunklen Anzügen singend an ihrem Ufer entlangziehen. Die Moskwa natürlich, die schweigsame mürrische Moskwa, auf der du einmal sogar mit einem Schiff, das den Namen GOGOL trug, bis Nischni Nowgorod gefahren bist. Weiter nach Osten bist du nicht gekommen, die großen Flüsse Asiens und Afrikas hast du nicht gesehen, auch nicht sehen wollen. Nur einen noch, den Hudson River, in dem sich Wolkenkratzer spiegeln.
Ist es genug? War es vielleicht schon zuviel? Zuviel des Guten? Das einmal zu Ende gehen muß?
Ich weiß noch, jemand rüttelte mich behutsam an der Schulter: Ria. Hinter ihr standen Ines und Kätchen. Sie machten besorgte Gesichter und wollten wissen, ob ich krank sei. Ich lag in meinem Bett im Hotel. Wieso denn krank. Nun, man habe seit gestern nachmittag nichts von mir
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