Stadt der Engel
tun.
Der Ausflug nach Hearst Castle war ein Wendepunkt, danach begann der Abschied, der sich allerdings über Wochen hinzog, Wochen, in denen ich das Gefühl hatte, in einer immer brüchiger werdenden Wirklichkeit zu leben. Als ob die Realität, was immer man darunter verstehen mochte, sich mir entziehe. Ich lebte zwischen zwei Wirklichkeiten, von denen die eine versunken war und meines Eingriffs nicht mehr bedurfte, die andere, angeblich zukünftige, immer weiter von mir wegzurücken schien und mich nicht betraf.
Vielleicht noch nicht betrifft, sagte ich zu Peter Gutman bei unserem letzten langen Gespräch. Noch einmal saßen wir auf unserer Bank an der Ocean Park Promenade, redeten und schwiegen, ließen die Jogger und die Walker und die Spaziergänger an uns vorbeiziehen, einzeln, zu mehreren, in ihren verschiedenen Sprachen miteinander sprechend. Das würde uns fehlen. Einen langen Nachmittag warteten wir noch einmal darauf, daß die Sonne unterging.
Er wisse nun, sagte Peter Gutman, daß er das Buch über seinen Philosophen zu Ende schreiben könne. Er habe bis jetzt nicht den Mut gehabt, die Fragen so radikal zu stellen, wie dieser Mann es erfordere. Immer eingedenk des Satzes sein: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, und sich dem Sturm aussetzen.
Wieder einmal können wir nicht wünschen, was geschehen wird, sagte ich zu Peter Gutman. Patchwork-Leben, sagte ich. Die einzelnen Stücke nachlässig zusammengeheftet.
Das schreib mal auf, sagte Peter Gutman.
Die Luft wurde gegen Abend milder, die Hitze zog über das Meer hin ab, wir wollten nicht weggehen. Ich dachte, ich würde dieses Licht immer in der Erinnerung behalten, doch jetzt weiß ich nur noch, daß ich das dachte. Das Licht, das kurz vor Sonnenuntergang über dem Pazifischen Ozean liegt, vergaß ich. Auch den Duft der Eukalyptusbäume. Aber ich weiß, es gibt ihn, also ist er mir nicht verloren.
Weißt du, daß Freud sich Sterbehilfe erbeten hat, fragte ich.
Er wußte es natürlich.
Übrigens, sagte er nach einer Weile, kannst du es noch auswendig?
Ich wußte gleich, was er meinte, und zitierte ihm, fast ohne zu stocken: Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren .
Wir verabredeten, daß er jederzeit den vollen Text von mir verlangen könnte, falls er ihn einmal brauchen sollte. Er hat ihn nie verlangt.
Übrigens, sagte er, wieder nach einer Weile, wir telefonieren nicht mehr. Es geht. Nicht besonders gut, aber es geht.
Das hatte ich mir schon gedacht.
Schnell war die Sonne weg. Schnell war es dunkel. Wir standen vor unserer Bank und verbeugten uns förmlich: Nice to meet you, Monsieur.
You’re welcome, madam.
Rachel in ihrem winzigen Häuschen, 26th Street, Ecke Broadway. Feldenkrais lehre uns, sagte sie, durch kleine Bewegungen mehr Effekt bei weniger Anstrengung zu erzielen. Ich legte mich auf einen Tisch, sie ließ mich die bequemste Stellung finden und begann dann, meine Beine auf verschiedene Weise sehr wenig und sehr sanft zu bewegen. Your mind will tell you that’s a Feldenkrais therapist, she wouldn’t hurt me, but your system is not so sure. I respect your system. Sie ließ mich den richtigen Abstand finden, um meine Füße aufzusetzen, zeigte mir eine weniger anstrengende Art, aufzustehen. Was man falsch gelernthabe, könne man richtig umlernen, es gehe also darum, sich uneffektive Bewegungen umzugewöhnen, auf sanfte Art. Nach der Behandlung waren die Gelenke wirklich »softer«, meine Stimmung war aufgehellt, ich verspürte eine Bereitschaft, mir Gutes zu tun, zum Beispiel mir Kakao zu kochen und »to let it be«. War das die letzte Stunde bei ihr? Gab sie mir diesen Rat zum Abschied mit?
Dasselbe würde die Nonne sagen. Ich nahm ihr Buch mit, als ich zu Sally fuhr, die mich dringlich gebeten hatte, noch einmal zu ihr zu kommen. Sie wollte mir ein Video zeigen, einen Film, den sie mit sich selbst als einziger Darstellerin aufgenommen hatte. Ich suchte in ihrem Gesicht nach Spuren von Veränderung, fand sie nicht. Womöglich war sie gealtert. Einen Fortschritt gab es doch: Sie hatte die Scheidung von Ron eingereicht. Der Grund war: Haß. Haß gegen Ron und Selbsthaß. Sie hoffte, ihn durch diesen Schritt zu treffen, so weit war sie von der Wirklichkeit entfernt. Und ich hatte nicht den Mut, ihr das zu sagen.
Sie gehe jetzt viermal in der Woche zur Therapeutin, habe dabei natürlich herausgefunden, daß ihr Gefühl, nichts wert zu sein, mit ihrer Mutter zusammenhänge, die übrigens diese Therapie bezahle.
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