Stadt der Engel
Während sie ununterbrochen redete, mischte Sally einen Salat, wärmte einen Fisch mit Gemüse in der Mikrowelle auf, dazu Pasta, redete, redete. Von ihrer Einsamkeit, von ihrer Eifersucht. Daß sie nicht aufhören könne, sich in ihrer Phantasie in das Liebesleben von Ron und seiner Geliebten einzugraben. Daß sie nicht fähig sei, was aber ihre Analytikerin von ihr erwartete, einen einfachen, normalen Verlustschmerz zu empfinden. Statt dessen diese unaufhörliche Selbstquälerei.
Wir aßen. Das Licht in ihrer kleinen Wohnung war gut an diesem Abend, ein Nordlicht, das von verschiedenen Mauern draußen den Widerschein der Abendsonne empfing.
Dann zeigte mir Sally das Video, an dem sie seit einiger Zeitarbeitete, eine hüllen- und rücksichtslose Selbstaussage, eine Darstellung des reinen Schmerzes. Sie selbst zuerst als jüngere, schöne Frau, die sich schminkt, anzieht. Dann sie, wie sie jetzt war, stark gealtert, mit grauem Haar, weinend, zur Kamera sprechend, Fragen stellend. Sie, Auto fahrend, dabei redend. Sie im Slip und BH, in ihrer Wohnung, sich bewegend, ein paar Tanzschritte probierend. Rons Stimme, die sie zufällig auf einem Band hatte, und ihre, beide den gleichen Text lesend, übereinander geschnitten. Spielzeug eingeblendet, Clowns, Pinguine in ihrer Marionettenhaftigkeit, ein Hund, der endlos seine Geschlechtsteile an einem Stein reibt. Dann immer wieder sie. Ihr Gesicht, ihr Körper, auch nackt. Musik unterlegt, passend.
Ich war zuerst überrascht, dann berührt und bewegt, nichts war peinlich, nichts sentimental, alles war professionell, ohne im mindesten routiniert zu sein, es war mutig, bis an eine Grenze gehend, darüber hinaus. Warum müssen solche Entäußerungen immer durch Schmerz erzwungen werden, aber warum fragte ich das, ich wußte es ja.
Ich sagte Sally, wie gut ich fände, was sie da gemacht hatte, wir sprachen noch über den Schlußtext, der ausstand. Ich wußte, mein Beifall würde ihren Schmerz nicht lindern. Wir umarmten uns lange zum Abschied. Wirst du mal wiederkommen? – Weiß nicht, sagte ich und dachte: Kaum. Aber vielleicht kommst du mal nach Europa. – I don’t think so. Am Schluß gab ich ihr das Buch von der Nonne zurück. Ich hatte ihr – und mir – einen Satz angestrichen: My whole life is a process of learning how to make friends with myself.
Die Abschiede. Ich versuche, sie mir zu vergegenwärtigen – welch passendes Wort! Wir saßen, die »Gang«, im Innenhof des ms. victoria , jeder hatte »etwas zu essen« mitgebracht, hauptsächlich war »etwas zu trinken« damit gemeint, wir hatten Therese zu verabschieden, sie hatte, ihrem Auftrag gemäß, über die Wahl zum Bürgermeister dieser Stadtberichtet, bei der natürlich der von uns bevorzugte Kandidat verloren hatte. Nun muß ich mich schon mit einiger Mühe in die Stimmung jenes Abends zurückversetzen, der mir übrigens wie in eine andauernde helle Dämmerung getaucht erscheint, das Wort ist am Platze, als wäre nicht, wie es doch landesüblich war, mit einem Mal die Dunkelheit eingebrochen, als hätte es weder Mond noch Sterne gegeben. Sondern nur unseren Kreis, auf zusammengestückelten Sitzgelegenheiten um ein paar Campingtische herum gruppiert, auf denen verschiedenartige und verschiedenfarbige Flaschen standen, aus denen wir uns nachschenkten, jeder in das Glas, das er sich geschnappt hatte, und dazu Sandwiches, ein großer runder Käselaib, Brot, Salzgebäck, Obst. Wer da ein Aufnahmegerät angeschaltet hätte! Wer wenigstens in der Erinnerung behalten hätte, wovon da über Stunden die Rede war. Erstaunt stellten wir fest, daß wir schon gemeinsame Erinnerungen hatten, die sich eigneten, das haltbare Grundmuster der Gespräche zu bilden, weißt du noch, wißt ihr noch, Lachkaskaden, als hätten wir nur überaus Komisches zusammen erlebt. Tatsächlich hatte Susan sich das Haus entgehen lassen, über das sie damals – einige Wochen war es her – verhandelt hatte. Typisch Susan. Sie lachte mit. Oder Therese mit ihrem Los-Angeles-Fimmel. Wie sie den Obdachlosen, der sie schamlos bestohlen hatte, in ihre Begeisterung mit einschloß. Lachen. Oder nun gar Margery, die doch tatsächlich nach Berlin geflogen war, hingerissen zurückkam – da schlägt in diesen Monaten das Herz der Welt! – und sich allen Ernstes mit dem Gedanken trug, in Prenzlauer Berg ein amerikanisches Western-Restaurant aufzumachen: Das fehle dort noch. Dafür würde sie ihre therapiebedürftigen reichen amerikanischen Ehepaare
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