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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Klima zog. Ich würde es lernen müssen, die Tränen zu unterdrücken, wenn einer von ihnen, nachdem ich ihm einen Dollar gegeben hatte, mit demütiger Stimme in seinem leiernden Singsang Have a nice day hinter mir hersagte oder im schlimmeren Fall God bless you, mein Mitgefühl war billig, was könnte es jener homeless-Frau mit der mausgrauen Filzkappe helfen, wenn ich mich neben sie setzte, auf jene Bank vor dem Billigkleiderladen, auf der sie sich immer niederließ, einen Einkaufswagen von PAVILIONS neben sich, in dem sie ein paar mißfarbene Kleidungsstücke, leere Flaschen, mehrere prall gefüllte Plastikbeutel und eine Wolldecke mit sich führte, ihre ganze Habe, Überlebensgepäck, sie wollte kein Geld, sie schüttelte den Kopf und verwies auf die Flaschen, die sie aus Abfallkübeln herausklaubte und von deren Pfand sie existierte. Ich weiß noch, daß ich mich ihr unterlegen fühlte, schuldig, wegen meines unverdienten Luxuslebens, die Frau mochte so alt sein wie ich, Anfang sechzig, sie war gezeichnet, weißes krauses Haar quoll unter ihrer Kappe hervor, sie war unförmig geworden durch die minderwertige Nahrung, auf die sie angewiesen war, selbstbewußt breitete sie sich mit ihren Bündeln auf ihrer Bank aus, die ihr niemand streitig machte, und begann ein Gespräch mit der homeless-Frau auf der Bank gegenüber, ich hörte ihre rauhe Stimme, ihren mir unverständlichen Slang, ein paar einzelne Worte schnappte ich auf, Kinder, Familie, ich sah die Frau ausschweifend gestikulieren, laut und herzhaft lachen mit aufgerissenem Mund voller schadhafter Zähne. Diese Frau, sagte ich mir, hatte alle Rücksichten hinter sich, jede Art von Anpassung und Verstellung, wenn das Freiheit bedeutete, war sie frei, auch frei von Besitz, sie besaß nur das Allermindeste, was ein Mensch braucht, sie mußte nicht ängstlich ihren Reichtum hüten und verteidigen, sie nahm niemandem etwas weg,sie beteiligte sich nicht an der Ausbeutung der Schätze dieser Erde, sie ist unschuldig, dachte ich, während wir alle schuldig sind, weil wir den Preis nicht zahlen wollen, der uns abverlangt wird.
    So sprang das Tonband in meinem Kopf wieder an, während ich gegrillten Fisch und Salat aß, die Menschen an mir vorübertreiben ließ, Dunkelheit sich ankündigte und ich zurückging in das ms. victoria , das, leicht belustigt mußte ich mir das eingestehen, neben all seinen Vorzügen auch noch den hatte, der ideale Ort für einen Krimi zu sein, dachte ich, als ich die halbdunkle Halle durchquerte und die schmale Treppe zu meinem Apartment hinaufstieg, alles ein bißchen finster, alles ein bißchen unheimlich, und wie um den Beweis für mein Gefühl zu liefern, lag da tatsächlich direkt vor meiner Tür eine pralle Brieftasche, in ihr jede Menge Schecks und Scheckkarten, aus denen der Name des Eigentümers hervorging, ein Mr. Gutman, Peter Gutman, der wohl im Haus wohnte. Seine Apartmentnummer mußte ich erst auf der beinahe unleserlich bekritzelten und schlecht beleuchteten Namenstafel an der Haustür entziffern, um ihn anrufen zu können. Er wohnte ein Stockwerk über mir. Zum Glück meldete er sich. Mir aber fiel das englische Wort für »Brieftasche« nicht ein, so daß ich dem verwunderten Mister Gutman mitteilte, ich hätte »etwas« – something – von ihm gefunden.
    What did you find?
    Something, Mr. Gutman. Please, come down.
    Er kam. So sah ich ihn also zum ersten Mal, im Halbdunkel, auf der Treppe. Er war ein sehr großer, hagerer Mann, an dessen Gliedmaßen die Kleider achtlos aufgehängt schienen und der einen langen, eiförmigen kahlen Schädel hatte, egghead, mußte ich denken, ein typischer Eierkopf, und wie merkwürdig, daß mir eine derartig markante Gestalt noch nicht im ms. victoria begegnet war. Erfreut nahm er seine Brieftasche entgegen, »wallet«, ach ja, so hieß das Ding, wieder ein Wort gelernt. Er hatte den Verlust noch nicht bemerkt. Höflich fragte er, ob ichnicht mit ihm kommen wolle, damit er sich mit einem Drink bei mir revanchieren könne. Nein danke, sagte ich zu meiner Überraschung, ich sei zu müde. Gerne ein andermal.
    Später hat er mich mit dieser ersten Zurückweisung aufgezogen, und ich verspottete ihn dafür, daß er beharrlich weiter Englisch mit mir sprach, obwohl er mich mit meinem ersten Satz als Deutsche ausgemacht haben mußte. Aber da wußte ich ja schon, warum er nicht von einem Wort zum anderen ins Deutsche überwechseln konnte, da sei immer noch eine Sperre, sagte er. Unbewußt. Und

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