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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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beharrliche Gefühl gekommen, daß ich eigentlich wissen mußte, womit Peter Gutman sich beschäftigte. Daß die Auflösung des Rätsels um seine Person zum Greifen nahe war. Ich schloß die Augen und machte meinen Kopf leer. Ein weißes Kärtchen erschien vor meinem inneren Blick, beschriftet mit seinem Namen, gerahmt in der Art, wie die Schilder an unseren Bürotüren im CENTER gerahmt waren. Aber das konnte doch nicht – ich sprang auf, lief auf den Flur und musterte die Tür meines Nachbarbüros. Dort stand: Prof. Peter Gutman, erzählte ich Peter Gutman später, wahr- und wahrhaftig. Wollen Sie mir glauben, daß ich diese banale Auflösung eines so verzwickten Rätsels beinahe bedauerte? Und ich hatte mir ein so schön kompliziertes Phantasiegebilde von den Verwicklungen gemacht, in die ich Sie verfangen sah, und ich hatte mir vorgenommen, Ihnen so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen.
    Reingefallen, sagte Peter Gutman mit seinem ernsten Wissenschaftlergesicht. Zu früh kapituliert. Verwicklungen gibt es in Hülle und Fülle. Ich musterte ihn gründlich. Aha, sagte ich. Na dann kann es ja losgehen. Wir standen am Kopierer imSekretariat des CENTER, und mich überkam ein übermütiges Glücksgefühl.
    Abends rief Sally an. Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe? Das von dieser buddhistischen Nonne?
    Hab’s angefangen, sagte ich. Scheint nicht übel zu sein. Aber du – hast du beherzigt, was sie vorschlägt?
    O no! rief Sally. Was die will, das ist ja überhaupt das schwerste: Loslassen! Das könne sie nicht und wolle sie auch nicht. Gerade habe sie eine Therapie angefangen, und ihre Therapeutin ermuntere sie, das Geld ruhig zu nehmen, das Ron ihr anbiete – nein: ihr schulde, aus der Erbschaft seiner Mutter, die für sie beide bestimmt gewesen sei. Schließlich seien sie noch verheiratet, und Rons Mutter habe sie geliebt und sei selbstverständlich davon ausgegangen, daß sie ihr Erbe gemeinsam nutzen würden. Aber wie die Dinge nun lägen – würde man ihr nicht nachsagen, sie lasse sich dafür bezahlen, daß sie Ron freigebe?
    Du selbst wirst dir das nachsagen, sagte ich, nur du. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob sie immer noch darauf hoffte, daß Ron zu ihr zurückkäme, aber ich unterdrückte die Frage. Es war zu offensichtlich, was Sally glaubte und hoffte, und wenn ihre Therapeutin gut war, mußte sie ihr diese Hoffnung nehmen, und dafür würde sie von Sally gehaßt werden, aber ich war nicht ihre Therapeutin, ich konnte sie ihren Wunschträumen überlassen, ich wollte auch nicht von ihr gehaßt werden, ich hatte genug vom Gehaßtwerden.
    Die Nonne übrigens meinte ja, es gebe ein verbreitetes Mißverständnis unter den Menschen, das darin bestehe, den Schmerz möglichst zu meiden und »to get comfortable«, und ich mußte mich wundern, woher diese buddhistische Nonne das wissen konnte. Natürlich wollte ich Schmerz vermeiden, natürlich wollte ich »angenehm« leben, was nicht heißen mußte, »im Wohlstand« leben, das nicht, Brecht. Aber in relativem Wohlstand doch, unter Bedingungen, die mir meine Arbeit ermöglichten, das war für mich »angenehm«, das war, ich sagteund sage es mir jeden Tag, in dieser Welt ein großes unverdientes Privileg. Unversehens hatte mich eine Art Neugier auf die Gedanken dieser Frau erfaßt, die eine weit interessantere, freundlichere, abenteuerlichere und freudvollere Annäherung an das Leben darin sah, daß die Menschen ihre Wißbegier entwickelten und sich nicht darum kümmerten, ob das Resultat ihrer Nachforschungen für sie bitter oder süß sei, sie müßten sich nur klarmachen, daß sie eine Menge Schmerz und Freude ertragen könnten, um herauszufinden, wer sie seien und wie die Welt sei. Wie sie funktionierten und wie die Welt funktionierte: Wie dieses ganze Ding wirklich i s t.
    Ich verabschiedete mich von Sally, setzte mich an mein Maschinchen und schrieb:

    die gelegenheit ist günstig. warum nicht herausfinden, wie ich wirklich bin, wenn diese nonne mir ins gesicht hinein behauptet, dass ich mich durch und durch kennen und doch mit mir befreundet sein könnte. sie nennt das »loving kindness« und bringt mich in verlegenheit, weil ich das nicht ins deutsche übersetzen kann. anscheinend haben wir nicht diese freundlichkeit uns selbst gegenüber. es gibt selbsthass und eigenliebe und eitelkeit, und auf der anderen seite der medaille dieses bohrende minderwertigkeitsgefühl. das ist doch merkwürdig.

    Unter meiner Bürotür im CENTER fand

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