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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nichts zu verlieren hätten, und die Weißen ihrerseits versuchten so schnell wie möglich zu verdrängen, daß sie zitternd vor ihren Häusern gestanden und von ihren reichen Vierteln aus die Stadt hätten brennen sehen.
    Aber das kennt ihr ja, sagte Al, und ich verstand nicht gleich.
    Eure riots, sagte er.
    Unruhen nennst du es? Du meinst das, was man heute Wende nennt? Manche haben sie Revolution genannt. Unsere friedliche Revolution.
    Al kannte die Leninsche Definition. Der historische Augenblick, wenn die Unteren nicht mehr so leben wollen wie bisher, und die Oberen nicht mehr so leben können, zitierte er.Mag ja sein. Aber, wenn schon marxistische Theorien: Gehöre zur Revolution nicht der Schritt in eine entwickeltere Gesellschaftsformation? Und? Kann man bei euch davon sprechen? Vom Sozialismus vorwärts zum Kapitalismus?
    Eine Weile überließen sie mich meinem Schweigen. Einige Wochen lang, sagte ich dann, konnte es uns vorkommen, als neigte die Geschichte sich uns zu. Der Vorschein einer Zukunft, die viele ersehnten und die noch keiner gesehen hatte. Und an deren Gerüst wir mit Hand anlegten.
    Einmal, sagte Maggie, möchte sie das erleben. Vielleicht könnte ihr das für das ganze Leben eine Zuversicht geben, die ihr jetzt unaufhaltsam schwinde. So als würde die Luft aus einem Behälter weichen, in dem wir, alle Menschen, luft- und kraftlos zurückblieben. Und uns nur noch Ersatzleben zugebilligt würden.
    Das kenn ich, sagte Sally. Und wie ich das kenne! Sie legte ein Video ein. It is about my job, sagte sie. Ihr Job war die Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen. Auf dem Video sahen und hörten wir, wie sie mit ihnen umging. Wie sie behutsam Fragen stellte, wie die Jugendlichen über ihr Leben sprachen, düstere Schicksale: Vom Vater verlassen, von der Mutter vergessen, in verwahrlosten Ghettos in Jugendbanden aufgewachsen, drogenabhängig, am Rand der Kriminalität dahinvegetierend, und oft über diesen Rand hinausgetrieben. Das Mädchen mit dem Afro-Look, das Sally mit ins Theater nahm und das neben ihr saß und weinte, weil es begriff: In dem Stück war auch von ihm die Rede. Der Sally später auf den Kopf zusagte: Du bist als Kind mißbraucht worden. Wie das Mädchen zum ersten Mal ja sagen konnte, so daß Sally weiter zu fragen wagte: Von einem nahen Verwandten? – Ja. – Von deinem Vater? – Ja. Ja, ja, ja. – Jetzt ist sie in Therapie, sagte Sally und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. Zur Zeit ist sie mir böse, sie muß ihre Mutter aus sich herausschneiden, das probiert sie an mir aus.
    Du weißt nicht, wie stark du bist, Sally, sagte ich, als wiruns verabschiedeten. Wie da ihr Lächeln erlosch. Wie sie sagte: Aber ich bin gerade dabei, diesen Job aufzugeben. Ich kann nicht mehr. Es ist, als müßtest du Wasser mit einem Sieb schöpfen.
    Und du? fragte sie mich noch, als wir vor der Tür ihres kleinen halben Häuschens standen, zu dem von der Straße aus eine schmale Treppe hinaufführte. Wozu bist du eigentlich hier? Um Abstand zu gewinnen? Zu vergessen? Was willst du hier machen?
    Jemanden suchen, sagte ich. Eine Frau, von der ich nicht mal den Namen weiß. Na, viel Erfolg, sagte Sally. Da lachten wir beide, um Mitternacht auf einer der stillen abseitigen Straßen von Los Angeles, in der samtenen Luft Kaliforniens und unter dem Großen Wagen, der umgekippt war und nun übermütig auf dem Kopf stand.

DER BLINDE FLECK
    DER BLINDE FLECK schrieb ich zu Hause auf meinem Maschinchen, vielleicht ist es uns aufgegeben, den blinden fleck, der anscheinend im zentrum unseres bewusstseins sitzt und deshalb von uns nicht bemerkt werden kann, allmählich von den rändern her zu verkleinern. so dass wir etwas mehr raum gewinnen, der uns sichtbar wird. benennbar wird. aber, schrieb ich, wollen wir das überhaupt. können wir das überhaupt wollen. ist es nicht zu gefährlich. zu schmerzhaft.

    Wenn meine Gedanken sich im Kreise drehten, sprang ich auf, lief hinaus, in das Spätnachmittagslicht, hinein in die Second Street, in das vielfarbige Menschengewimmel, das dort gegen Abend auf- und abtrieb, um sich zu zeigen, um vor den kleinen Restaurants zu sitzen und Hamburger, italienische Pastagerichte, mexikanische Tortillas oder japanische Sushi zuverzehren und sich um die zahlreichen Schausteller mit ihren Vorführungen zu scharen. Und inmitten dieser lebhaften Menge, von niemandem bemerkt, als seien sie unsichtbar, die kleinen fehlfarbenen Flecken der homeless people, die es in dieses günstige

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