Stadt der Engel
ich einen Zettel durchgeschoben. Zum ersten Mal sah ich die winzige, kalligraphisch vollkommene Schrift von Peter Gutman, meinem rätselhaften Nachbarn – später hat er mir erzählt, wann er sich diese Schrift antrainiert hat –, und las die Mitteilung, daß unser gemeinsamer Freund Efim Etkind aus Leningrad, der aus seiner Heimat ausgebürgert war und jetzt in Paris lebte, an diesem Tag Geburtstag hatte. Seine Telefonnummer war dabei. So hatten wir also gemeinsame Freunde, woher wußte er das? Und sollte ich mit Peter Gutman nur über Fundstücke in Kontakt kommen,die vor meiner Tür lagen? Ich trat noch einmal hinaus auf den Gang: Die Tür zu meinem Nachbarbüro war geschlossen, wie immer. Kätchen kam herein und brachte die neuesten Computerausdrucke, Literaturlisten, die das Computersystem Orion ausgespien hatte, nachdem sie es mit bestimmten Stichwörtern gefüttert hatte. Das ominöse Kürzel L. konnte man ja nicht gut eingeben, Kätchen hatte es trotzdem versucht, vergebens natürlich. Dann hatte sie ohne viel Hoffnung auf Erfolg den Namen meiner Freundin Emma eingegeben, jener alten Genossin, die mir in ihrem Nachlaß das Bündel Briefe von L. hinterlassen hatte, da war Orion fündig geworden und hatte den Buchtitel ausgedruckt, den ich schon in der Universitätsbibliothek ausfindig gemacht hatte und der ausgeliehen war (»Linke Presse in der Weimarer Republik«, Hrsg. Emma Schulze, Frankfurt am Main, 1932). Von diesem Buch hatte Emma nie gesprochen, ich bezweifelte, daß sie selbst noch ein Exemplar davon besessen hat.
Mit fiel ein, daß Kätchen den Betrieb im CENTER aus dem Effeff kannte. Wo ist Peter Gutman? fragte ich sie. Ach der, sagte Kätchen, der macht sich rar. Der ist selten hier. Heute früh habe sie ihn kurz gesehen, er habe seine Post aus dem Fach genommen, und dann sei er schon wieder verschwunden. Als vermeide er es, an unseren Teestunden teilzunehmen.
Das erschien mir verständlich. Warum eigentlich? Ich steckte meine Post ein, schulterte meinen bunten Beutel aus dem indischen Laden und ging in Gedanken versunken zum ms. victoria . Um herauszufinden, warum er sich so eigentümlich verhielt, müßte ich etwas über die Vergangenheit von Peter Gutman wissen, sagte ich mir. Ich aß, machte es mir dann in dem tiefen Sessel vor dem Fernseher bequem, den Wein in Reichweite, wie üblich lief »Star Trek« auf Kanal 13, schamlos entzückt folgte ich dem Kapitän Picard und seiner Mannschaft, hingegeben den Weltall-Abenteuern des Sternenschiffs Enterprise, wobei die Picard-Mannschaft vorführte, daß unbedingte Disziplin sehr wohl zusammengehen konntemit einer durch männliches Understatement veredelten reifen Menschlichkeit.
Das Telefon. Peter Gutman. What an incident! sagte ich, und hatte es dann schwer, zu erklären, warum ich diesen Anruf einen »Zufall« nannte, ich konnte ihm doch nicht sagen, daß ich über ihn nachgrübelte. Er hingegen wollte nur nachfragen, ob ich den Zettel gefunden hätte, den er unter meine Bürotür geschoben hatte. Gewiß. Ich hatte sogar gleich in Paris angerufen und von Efim erfahren, daß er, Peter Gutman, ein alter Freund von ihm sei. Natürlich hatte ich ihm zum Geburtstag gratuliert. Great, sagte Peter Gutman. Aber woher ich diesen Freund eigentlich kenne, alles auf englisch. Ich erwiderte auf englisch, dies sei eine längere Geschichte. Da kam es in lupenreinem Deutsch: Warum ich ihm diese Geschichte nicht erzählen wolle. Gleich? Warum nicht gleich. Einen Drink sei er mir sowieso noch schuldig. Er dürfe sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn seine Brieftasche in unbefugte Hände geraten wäre. Ah, dachte ich. Das klingt nach Geheimhaltungspflicht. Aber ich bin schon bei einem Drink, sagte ich, immer noch auf englisch. – Weiß oder rot? – Weiß. – Nun gut, sagte Peter Gutman. Er werde noch eine Flasche mitbringen.
Die vielen Male, die Peter Gutman im Lauf der nächsten Monate an meine Tür geklopft, seinen höflichen langen kahlen Schädel hereingesteckt, seine Gliedmaßen in einem meiner tiefen Sessel untergebracht hat, die kann ich nicht mehr zählen oder auseinanderhalten. Das erste Mal weiß ich noch genau. Er akzeptierte mein Knabbergebäck, ich akzeptierte seinen Wein, und er verkündete zum ersten Mal seine These, daß wir auf einem Luxusdampfer lebten, hier im ms. victoria , und erst recht drüben im CENTER. Vom Deck des einen Luxusdampfers auf das Deck des nächsten, noch luxuriöseren, und nur, damit wir uns wichtig nehmen
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