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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Dunkeln vor einem erleuchteten Schaufenster gestanden, hattest auf Zahnpastatuben und Reinigungsmittel gestarrt und auf einmal begriffen: Das ist der Schmerz. Daß du ihn noch länger als ein Jahr aushalten solltest, wolltest du dem Freund nicht glauben. Zwei Jahre! hattest du damals ungläubig gesagt, und durch diesen Wortwechsel hatte ich behalten, wie lange ich in dieser Druckkammer gewesen war. Sally fehlten nach dieser Zeitrechnung sechs Monate. Es sei so erniedrigend, sagte sie, und ich sagte: Ja. Das hatte ich auch so empfunden. Manchmal, sagte ich, bemüht, nah an meiner eigenen Erfahrung zu bleiben, manchmal kommt der Umschwung plötzlich, you know, über Nacht. Du wachst auf und bist frei.
    Aber Sally konnte mich nicht hören, sie steckte noch in der Druckkammer. Sie habe immer gedacht, sagte sie, wenn es ihr einmal passieren sollte, werde sie großzügig sein können zu dem Mann, der sie einer anderen wegen verlasse, aber daskönne sie nicht. Nein, das könne sie nicht. Es sei doch nicht irgendein Mann, you see. Es sei doch Ron. Es sei wie ein Zwang, sie müsse seine Schuldgefühle ausnutzen bis auf den Grund, verstehst du das. Er hat alles, was er sich wünscht, einen Beruf, der ihm Spaß macht, Geld, eine schöne junge Frau, die überall tätowiert ist, er ist frei, er kann tun und lassen, was er will, und ich, sagte Sally, während sie den Salat mischte, ich habe mich immer danach gerichtet, was andere von mir wollten. Du, Sally? sagte ich. Jetzt übertreib mal nicht, und ich beschrieb ihr das Bild, das ich von ihr hatte, als wir uns vor Jahren auf jenem College im Norden begegnet waren: Eine reizvolle, sehr schlanke junge Frau, selbstbewußt, trainiert, heiter und tätig, auf anfeuernde Weise exzentrisch, eine eigenwillige Tänzerin voller origineller Einfälle, Dozentin an dem College, an dem ich creative writing geben sollte, und eine überzeugte Feministin.
    Ach, sagte Sally, wenn du wüßtest. Und ich dachte: Ja, wenn wir voneinander wüßten. Wenn sie wüßte, was für ein Tonband die ganze Zeit über in meinem Kopf abläuft, wenn irgend jemand wüßte, daß ich jetzt denken muß: Woher kommt dieser Zwang, uns an Menschen und Ideen und Dinge zu hängen, die uns zerstören? dachte ich, während Sally sagte: Weißt du eigentlich, daß ich zehn Monate lang in einem buddhistischen Kloster war? Da war eine Nonne, die hat sich wirklich Mühe mit mir gegeben, mich auf den Weg liebevoller Güte und Selbstannahme zu geleiten, ich glaube, sie mochte mich, obwohl ich überzeugt war, ein wertloses Stück Dreck zu sein, das Ron einfach wegwerfen konnte. Sie versammelte uns zur Meditation und erklärte uns mit ihrer freundlichen gleichmäßigen Stimme, daß dies alles, was wir jetzt hätten, und sei es noch so wenig, und daß die alltäglichen Verrichtungen, zu denen sie uns anhielt, und unser geistiger und seelischer Zustand in diesem Augenblick genau das seien, was wir brauchten, um menschlich, wach und lebendig zu sein. So als hätten wir uns genau das ausgesucht, um ein erfülltes Leben zu führen. Aber die Nonne hat mir auch nicht geholfen. Wir könnten wählen, hat sie unsversichert, sagte Sally, während sie die Salatsauce rührte, wir könnten Experten in Wut, Neid und Selbstzerstörung sein oder außerordentlich weise, sensibel gegenüber allen menschlichen Wesen, indem wir uns selbst kennenlernten, so, wie wir sind. Aber ich wollte mich nicht selbst kennenlernen. Ich wollte mich an Ron rächen. Ich wollte nichts anderes.
    Das sei das erste Abendessen, das sie allein für Gäste gebe, sagte Sally, und nun sei sie nicht sicher, ob das Fleisch gut sei. Wie magst du es denn, rare oder well done, ich sagte medium, da gab sie dem Braten noch zehn Minuten, zu viert saßen wir dann um den kleinen runden Tisch in ihrem bunten living room, und es schmeckte uns. Es ließ sich nicht vermeiden, ich wollte es auch nicht vermeiden, auf die riots zu sprechen zu kommen, jene gewaltsamen Unruhen, die, von den Vierteln der Schwarzen ausgehend, ein halbes Jahr zuvor die Stadt erschüttert hatten und noch immer halb angstvoll, halb abweisend unter den Weißen erörtert wurden. Ob sie sich wiederholen würden, wollte ich wissen. Sure, sagte Al, der Soziologe. Nur werde diesmal die Polizei darauf vorbereitet sein und jeden Ansatz zu Unruhen im Keim ersticken. Und Maggie, die Lehrerin in einem Armenviertel war, sagte, es habe sich ja gar nichts in South Central Los Angeles geändert. Es gebe dort einfach zu viele Leute, die

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