Stadt der Engel
»Files«, sagte sie schließlich. Aber wozu brauchst du das Wort? – Später, sagte ich. Vielleicht später mal.
Zur Sicherheit sah ich im Langenscheidt nach. Ich konnte nicht glauben, daß dieses kurze helle »file« dasselbe bedeuten sollte wie das dunkel-drohende deutsche »Akten«. »To keep a file on someone« hieß also »über jemanden eine Akte führen«, »to file away« hieß »etwas ablegen« – Briefe, Berichte, Abhörprotokolle, Verpflichtungserklärungen, was auch immer. Aber alle diese Wörter waren ja vorerst neutral, eine »file number« konnte ja etwas Harmloses sein, redete ich mir zu, kein Grund, feuchte Hände zu kriegen.
Die Schonzeit ging vorbei, die Zeit, die ich mir selber genommen hatte. Ich wußte ja meine Aktennummer nicht auswendig, unter der bei jener Behörde mein Aktenbestand registriert war. Wo – wie im Märchen von dem Griesbrei, der unaufhaltsam aus dem Zaubertöpfchen quillt, bis er die ganze Stadt bedeckt und erstickt hat –, wo also Papier über Papier aus einer dunklen Quelle hervorbricht und sorgfältig archiviert wird, bis es viele Zimmer, ein ganzes Haus, immer neue Räume in Beschlag nimmt, von wo aus es seine unheilvolle Wirkung entfaltet. Kopien der »guten«, die man perverserweise »Opferakten« nannte, lagen zu Hause in einem Koffer, und da liegen sie heute noch, und ich mußte an eine Reihe von Behältnissen denken, die vor diesem Koffer jahrelang in einem Kasten versteckt waren: Verschnürte, kreuz und quer verklebte Kartons, Kassetten, Reisetaschen mit Materialien, Manuskripten, Tagebüchern, die »sie« nicht finden sollten, und wenn diese Behältnisse da gemütlich in ihrem oberflächlichen Versteck lagen, war das ein Zeichen dafür, daß du sie nicht für gefährdet hieltest. Diese Hoffnung war immer gebrechlich und bestand, wie du in einer anderen Schicht deines Bewußtseins wohl wußtest, zu einem guten Teil aus Selbsttäuschung, und wenn die zusammenbrach, mußte sofort gehandelt werden. Die schützenswerten Materialien mußten ausgelagert werden: Freunde mußten bereit sein, sie bei sich aufzunehmen, ohne nach ihrem Inhalt zu fragen, Vereinbarungen mußten getroffen werden, wohin diese Behälter zu bringen seien, wenn sie auch bei diesen Freunden nicht mehr sicherwären, peinlicherweise und unter verlegenem Gelächter mußten Codewörter ausgemacht werden, die im Ernstfall übers Telefon durchgegeben werden und konträre Handlungen auslösen sollten. Und immer deine Sorge, du würdest die Codes verwechseln, die du dir ja, das war fest ausgemacht, unter keinem noch so harmlosen Stichwort notieren durftest. Was alles nicht in den Akten steht, dachte ich, die die Behörde zutage fördert. Und was ich nur wenigen Menschen erzählt habe. Der Koffer ist nicht leicht. Jahrelang habe ich ihn nicht geöffnet.
Ich setzte mich an mein Maschinchen. Ich schrieb:
NOCH EINMAL DAS UNTERSTE NACH OBEN KEHREN
NOCH EINMAL DAS UNTERSTE NACH OBEN KEHREN ich weiss ja, was ich von meinem gedächtnis zu halten habe, und ich kann nur hoffen, dass ich nicht in die lage komme, all diesen unschuldigen menschen mit ihren lückenlosen reinen gedächtnissen etwas über erinnern und vergessen erzählen zu müssen.
Dann machte ich mich fertig, um der Einladung zu einem Dinner zu folgen, das bei einem Germanistenpaar in Pacific Palisades stattfinden sollte und das mir, von den vielen Dinnerpartys dieses Jahres, sehr deutlich vor Augen steht. Ein polnisches Ehepaar holte mich ab, auf das ich besonders gespannt gewesen war. Ihn, einen von mir verehrten Essayisten, hatte ich ausfragen wollen nach den frühen Opferritualen der Urvölker, ich hatte gerade bei ihm darüber gelesen. Dann saß neben mir im Auto ein hagerer, kranker Mann, der offenbar schlecht hörte, große Mühe beim Atmen hatte und das amerikanische Englisch mit einem so schweren polnischen Akzent sprach, daß ich ihn kaum verstand. Seine Frau, eine hinfällige alte Dame, saß stumm neben dem Fahrer, in einer Aura von Trauer, so kam es mir vor.
Ich versuchte, im Vorbeifahren soviel wie möglich von Pacific Palisades zu sehen, von den gepflegten Gärten und den teuren Villen, die sich oft hinter hohen undurchdringlichen Hecken verbargen. Zwei weiße Hunde einer mir unbekannten edlen Rasse sprangen mit wüstem Gebell an ihrem Drahtgitter neben der Eingangstür unserer Gastgeber hoch. Der eine von ihnen hieß Willy, aber er hörte weder auf diesen Namen noch auf irgendeinen anderen Befehl seines Herrchens. Beide mußten
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