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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ungarische, skandinavische, russische, jüdische, deutsche Sitten, und ich fragte mich, ob sie sich vielleicht ebenso wie ich als Darsteller vorkamen in einem ihnen fremden Stück, das sie zu kennen vorgaben, das hatten sie bei Strafe ihres Untergangs gelernt, dessen Sprache sie so korrekt wie möglich sprachen, eingelernte Dialoge, aber die eigene Sprache würde es niemals sein, das wußten sie voneinander, und daß sie das wußten, war zwischen ihnen das verbindende Band – stärker verbindend vielleicht, als ein Band zwischen Heimatgenossen es je sein konnte, das wußten sie auch, und ich erfuhr es an jenem Abend aus ihren Blicken, ihren Reden, ihrem Schweigen und ihren Gesten. Meine Rolle war es, ihnen zuzuhören und vorzugeben, daß ich von ihrem mit russischen, ungarischen, polnischen Brocken durchsetzten Englisch mehr verstand, als ich es tat.
    Es war einer jener Abende, an denen ich mir ein mitlaufendes Tonband gewünscht hätte. Sie redeten über gemeinsame Bekannte, sie machten sich lustig über die Marotten jüdischer Freunde, über sich selbst, über die Macken der Amerikaner, alles großzügig, in lässiger Manier. Ich wurde mir bewußt, daß ich fast die einzige Nichtjüdin in dieser Runde war. Die Rede kam darauf, wie antisemitisch Amerika in den dreißiger und vierziger Jahren gewesen war, das hatte ich nicht gewußt. Auch die reichsten Juden wurden in Golf- und anderen Clubs nicht zugelassen, sagte Gottfried, und sie konnten nicht in allen Hotels übernachten, auch seinem Vater war das passiert, seinem Vater, der im Berliner Theaterleben ein Gott gewesen war.
    Ich genoß es, wieder einmal Russisch zu hören. Koba hatte fest gegründete Ansichten über die neuen Politiker in Moskau. Marja fand die Entwicklung in Ungarn einfach »terrible«: Up to the end of this century, the landscape doesn’t look so optimistically, right? Das polnische Ehepaar war froh und stolz, daß ihr einziger Sohn, der mit einer Amerikanerin verheiratet war, jetzt in Warschau lebte als Berater einer großen Firma und daß ihr Enkelkind Englisch und Polnisch lernte.
    Am Tisch wurde es immer lebhafter, auch lustiger, es wurde getrunken, man lobte die neuen amerikanischen Weine, alle schienen sich wohl zu fühlen und sich gut zu verstehen, und doch empfand ich, welch dichte Wolke von Trauer über diesen Menschen lag. Ich saß unter Vertriebenen. Sie alle hatten es sich antrainiert, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen – am tiefsten war er in die Züge der alten polnischen Dame eingegraben –, ihr Heimweh in ihren vier Wänden mit sich selber abzumachen. Man mußte es Amerika zugute halten: Es war das Rettungsschiff für Millionen Menschen wie diese hier.
    Elizabeth wandte sich mir zu. Da kam sie endlich, die erwartete, die gefürchtete Frage: What about Germany? You live in Berlin? West or east? East? Under the regime? The whole time?
    Yes, madam. Under the regime. Ein Schweigen um mich. Ichspürte, daß ich die Fremde war. Daß mein ganzes Leben und alle Versuche, es zu erklären, für eine normale gutwillige Amerikanerin in dem einen Begriff zusammenliefen: Regime. Aus dem es kein Entrinnen gab, so wie kein Lichtstrahl aus einem schwarzen Loch im Kosmos nach außen dringen konnte.
    Die Gesellschaft hatte nichts bemerkt. Sie hatte das Thema gewechselt. Gottfried vertrat die These, daß der Nationalsozialismus in Deutschland sich nicht durch den Pöbel, sondern durch die Eliten an der Macht hatte halten können. Warum habe Max Planck seinen Kollegen, seinen Bruder Albert Einstein nicht begleitet, als der aus Deutschland fliehen mußte? Man widersprach: Max Planck habe vielen Juden geholfen. Gottfried ließ keinen Widerspruch gelten und nannte Gustaf Gründgens als anderes Beispiel. Man stritt heftig.
    Ich spürte: Die Zeit stand für diese Menschen seit Jahrzehnten still, nichts war für sie vergangen, nichts hatte sich gemildert, kein Schmerz hatte sich abgeschwächt, keine Enttäuschung war verblaßt, kein Zorn verflogen. Und die einzige Erleichterung, wenn auch nur für Minuten, war es, manchmal darüber zu reden, es jemandem zu erzählen, der es wissen wollte, der zuhörte, Anteil nahm und ihren Empfindungen recht gab. An diesem Abend mußte ich dieser Jemand sein, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit, ich, weil ich aus Deutschland kam und weil ich jünger war. Zum ersten Mal erlebte ich das Bedürfnis der Vertriebenen, mit einer Deutschen ihre nie endende Fassungslosigkeit zu teilen, und ich hörte auf, mich

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