Stadt der Engel
der Theorie. Die Erosion der alten Macht auf fast allen Ebenen. Auf einmal lasen die Schauspieler in den Theatern nach der Vorstellung kritische Manifeste vor, und keiner war da, der ihnen in den Arm fiel und das stürmisch Beifall klatschende Publikum zur Raison rief. Auf einmal gingen viele Leute zum ersten Mal nicht zur Wahl, und Gruppen von Bürgerrechtlern verteilten sich auf die Wahllokale, sahen den Auszählern auf die Finger, schrieben die Ergebnisse mit, zählten sie in Stadtbezirken zusammen, verglichen sie mit den offiziellen Zahlen und teilten über die abgehörten Telefone einander und allen Bekannten mit: Wahlfälschung! Auf einmal konnte man niemanden mehr finden, der die Verhältnisse nicht in scharfen Tönen kritisierte, das zeigte, daß auch die Ängstlichen und Angepaßten eine Witterung aufgenommen hatten: Es roch nach Veränderung.
Zuerst die kleinen privaten Gruppen, oft als Lesezirkel getarnt, die miteinander in Kontakt traten, sich vereinigten, politische Diskussionen führten, Programme entwickelten, Resolutionen verfaßten, Forderungen formulierten. Ein emsiges Treiben von Wohnung zu Wohnung, Papiere wurden ausgetauscht, man übte sich in Konspiration, natürlich scharf beobachtet von den Organen der Sicherheit. Daß Parteien sich gründeten, schien unvermeidlich, Namen wurden weitergesagt, NEUES FORUM, DEMOKRATIE JETZT. Während derJahrestag des Staates mit militärischen Ehren und Pomp begangen wurde. Und die Staatsmacht es als schlimmste Drohung empfand, als die Massen auf den Straßen die Losung riefen: Wir bleiben hier!
Es gibt, sagte ich zu Peter Gutman, immer einen Point of no return. Aber man bemerkt ihn nicht immer.
Wir ließen uns treiben im Strom der Menschen, die sich an den Darbietungen der Gaukler und Straßenkünstler vergnügten. Etwas wie Neid kam in mir auf. So konnte man auch leben. Absurd erschien mir die Vorstellung, diesen zumeist jüngeren Leuten, die ihr kostbares Ich in den wunderlichsten Verkleidungen zur Geltung brachten und sich ganz dem Augenblick hingaben, etwas erzählen zu wollen über die Leidenschaft, mit der ebenfalls junge Leute vor Jahrzehnten auf der anderen Seite der Erdkugel tage- und nächtelang zusammengehockt und versucht hatten, eine Zukunft herbeizureden, in der der Mensch dem Menschen kein Wolf sein sollte. Ich sagte etwas darüber zu Peter Gutman, der erwiderte, auch er kenne solche Diskussionen. Bei uns, sagte er, hingen sie aber in der Luft, während doch ihr, so dachten wir, Boden unter den Füßen hattet: Die neuen Besitzverhältnisse, die euch heute als Verbrechen angerechnet und eilig rückgängig gemacht werden. Wo doch das eigentliche Verbrechen die »giftige Geldwirtschaft« ist, das hat schon Ludwig Börne gewußt. Aber was für Verbrechen neue Besitzverhältnisse hervorrufen können, wenn sie auf totalitäre Strukturen treffen, das hat er nicht gewußt.
Wir gingen schweigend. Hüte und Mützen lagen vor den Tänzern, Musikern und Zauberkünstlern auf der Straße, die Dollars saßen den vorüberschlendernden Zuschauern locker, ich blieb gebannt stehen vor einem sehr dünnen schwarzen Mann, der auf einem Podest stand, als Uncle Sam kostümiert: Auf dem Kopf einen mit der amerikanischen Flagge bezogenen Zylinder, in Zeitlupe einen in winzigen Rucken sich bewegenden Maschinenmenschen darstellend, angetrieben, mußte man denken, von einer in seiner menschlichen Hülle verborgenenApparatur, so daß ich unwillkürlich erwartete, die Scharniere knirschen zu hören, und fasziniert verfolgte, wie er, unendlich langsam, ruckhaft die Arme anwinkelte, sie wieder ausstreckte, den Oberkörper beugte, ihn wieder aufrichtete, was viele Minuten in Anspruch nahm und totale Körperbeherrschung voraussetzte. Das Publikum klatschte begeistert. Wir gingen weiter, bis zum Ende der Second Street, wo wir an einem Stand warme Waffeln mit Akazienhonig aßen.
Als wir wieder an dem schwarzen Uncle Sam vorbeikamen, warf ich ihm den Dollar in seinen Zylinder, der ihm zustand, wendete mich zum Gehen. Jetzt winkt er! rief Peter Gutman. Tatsächlich. Der Apparatemensch bewegte ruckhaft winkend seinen rechten Zeigefinger, ein maskenhaftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Ich trat näher. Im Zeitlupentempo streckte er mir seine Hand entgegen, beugte sich vor, umarmte mich, und ich versuchte seine Bewegungen nachzuahmen, lachte, ging. Jetzt kommt er! rief Peter Gutman. Da hatte der schwarze Mann sich von der Mechanik befreit, hatte schnellen Schritts sein Podest
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