Stadt der Engel
draußen bleiben. Marja und Henry, die uns begrüßten – sie ungarische Jüdin, er Sohn einer deutsch-jüdischen Familie –, waren mir schon in Berlin begegnet, als sie ein Gastsemester wahrnahmen. Marja war etwas älter als ich, zwischen uns war von Anfang an eine Sympathie gewesen. Die Gäste, die vor uns angekommen waren, Gottfried, ein Regisseur, und seine Frau Sylvia, standen schon mit den Sektgläsern in der Hand im vorderen Teil des living room, der mit tiefen Sesseln und Sofas ausgestattet war, die wiederum, wie in jedem amerikanischen Wohnzimmer, von zwei Stehlampen flankiert wurden. Wir setzten uns zu den obligatorischen Snacks und Dips. Ted wurde hereingeführt, ein Mitglied des German Department der Universität, als »liberal und links« war er mir angekündigt worden, seine Frau, Elizabeth, eine Anthropologin, besonders sorgfältig gekleidet und frisiert, sprach nicht deutsch und langweilte sich sicher, wenn die anderen mir zuliebe ins Deutsche wechselten.
Schließlich kamen die letzten Gäste, mit ihnen wollte Marja mich überraschen, es gelang ihr vorzüglich: Swetlana und Koba, die Stieftochter und der Schwiegersohn von Lew Kopelew, wir kannten uns aus Moskau, wir fielen uns in die Arme. Sie war eine stattliche Frau, dunkel, in schwarzem Kleid mit schwarzweißem Überwurf, typisch Russin, mußte ich denken. Er war ein Mann, der aus allen Nähten platzte, gerne redete, froh war, an der hiesigen Universität ein Seminar über den Dichter Ossip Mandelstam halten zu können. Vor zehn Studenten, sagte er achselzuckend.
Immer, wenn ich den Namen höre, taucht das Buch von Nadeschda Mandelstam vor mir auf, eines der ersten, das euch über das Leben in der Stalinzeit aufklärte. Nadeschda Mandelstam, die alle Gedichte ihres Mannes auswendig lernte und sie so, in ihrem Kopf, über die Jahrzehnte rettete, in denen sie verboten waren. Ich dachte an den Moskauer Abend, an dem Lew euch in die Wohnung seiner Verwandten mitgenommen hatte, wo wir Koba trafen, der gerade aus dem Gefängnis entlassen war; er hatte mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei demonstriert. Damals hockten sie in der Wohnung zusammen und sprachen von Emigration. Das war über zwanzig Jahre her, es hatte sie seitdem in alle Welt verschlagen. Lew, inzwischen selbst ausgebürgert, sagte einmal an seinem Kölner Küchentisch zu euch: Meine Familie ist über alle Erdteile verstreut. Aber das war später.
An jenem kalifornischen Abend zwischen Emigranten aus verschiedenen Ländern drängte sich mir eine Gestalt auf, die heraufbeschworen werden mußte, während die Party weiterging, während wir uns an den großen Eßtisch setzten, zu Reis und seafood. Einen Menschen in der Erinnerung festmachen, dessen Asche in einem Grab in Moskau liegt und der schwindet, wie Tote schwinden. Lew. Ausgewiesen aus dem Land, welches das seine war, für das er als Soldat gekämpft hatte und unter dessen Feinden er Freunde geworben hatte, denn sein Lebensmotto läßt sich mit einem veralteten Wort benennen: Menschlichkeit. Mag das überall sonst, mag es bei fast jedem anderen eine Übertreibung oder eine Fehldeutung sein – auf ihn traf dieses Wort zu. Lew war menschlich, er konnte nicht anders. Es gab mir einen Stich, als ich eines Tages in der Midnight-Special-Buchhandlung in der Third Street sein Buch aus dem autobiographischen Zyklus, »To be preserved for ever«, neben dem gerade erschienenen schrillen Sex-Buch von Madonna liegen sah, diesem kostbar aufgemachten Exemplar, in dem manche Buchhandlungen bevorzugte Leser für einenDollar blättern ließen, damit sie sich an dem nackten Körper des Stars in seinen verschiedenen gewagten Posen erfreuen konnten. Aber zugleich mit der Regung von Widerwillen, die ich empfand, war mir klar, Lew selber würde diese Nachbarschaft mit einem großzügigen Lächeln akzeptieren.
Er konnte nicht hassen. In diesem Buch, in dem er das Verbrechen schildert, das ihm langjährige Lagerhaft eintrug und den schauerlichen Stempel auf seinen Effekten »Chranitj wetschno« (»Aufbewahren für alle Zeit«): daß er sich als sowjetischer Offizier gegen die gewaltsamen Übergriffe sowjetischer Soldaten an der deutschen Zivilbevölkerung in Ostpreußen aussprach – in diesem Buch gibt es keinen Haß. Ich frage mich, ob ich je ein haßerfülltes Wort von ihm gehört habe. Gewiß nicht an jenem ersten Abend, als ihr euch bei Anna Seghers traft und
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