Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
vertreiben, die Konflikte durchzustehen, deren Schärfe ihr nicht voraussaht, und nicht aufzugeben. Ein naives Programm.Auch die Westküste Amerikas, das sonnenreiche Kalifornien, konnte im Dauerregen versinken, das hatte ich nicht gewußt. Ich blieb im ms. victoria , sah im Fernsehen ganze Abschnitte der Steilküste, wenige hundert Meter von mir entfernt, auf die Küstenstraße niederbrechen.
    Ich lief zu meiner Bank im Ocean Park, der Regen hatte aufgehört, die Erde hatte sich vollgesogen, die Blätter der Palmen und der Eukalyptusbäume glänzten in einem satten Grün. Peter Gutman saß schon da, er begrüßte mich beiläufig, als seien wir verabredet gewesen. Auch er hatte sich tagelang in sein Apartment vergraben, auch er schien sich nach Luft zu sehnen. Wir gingen zum Huntley Hotel, fuhren mit dem gläsernen Außenlift hoch, sahen die Küstenlinie unter uns kleiner werden, die Leute am Strand zu winzigen Figuren schrumpfen, fanden noch einen Platz in dem rundum verglasten Restaurant. Happy hour. Gruppen sehr junger Leute hatten fast alle Tische okkupiert, benahmen sich wie die Besitzer, bedienten sich maßlos mit billigen Getränken, mit Häppchen an dem reichhaltigen Buffet, hatten keinen Blick für die Landschaft unter ihnen, den schönen Bogen der Küstenlinie von Malibu, sondern spreizten sich voreinander, indem sie einander überschrien, einen Lärmpegel erzeugend, gegen den wir kaum anreden konnten. Auch wir tranken die dünne, in Karaffen servierte Margarita und aßen Grillwürstchen und Gemüsepfanne, und wir blickten durch die riesige Glaswand auf den gloriosen Sonnenuntergang, den wir seit Tagen vermißt hatten.
    Ich legte Peter Gutman die Frage vor: Kann ein Mensch sich von Grund auf ändern? Oder haben die Psychologen recht, daß seine Grundmuster in den ersten drei Jahren angelegt werden und dann nur noch auszufüllen, nicht mehr zu verändern sind?
    Zum Beispiel? fragte Peter Gutman.
    Zum Beispiel: Die Gefahr, immer wieder in Abhängigkeit zu geraten? Von Autoritäten? Von sogenannten Führern? Von Ideologien?
    Darüber, sagte Peter Gutman, hat mein Philosoph gründlich nachgedacht, das trifft sich gut. Er meint, daß wir westlichen Menschen den Preis für unser Wohlleben mit dem Verlust von Reife bezahlen. Was uns mit der Muttermilch eingeflößt wird: Daß, wer sich gegen den Mainstream stemmt, herausfällt aus dem Versorgungsverbund.
    Aber ist denn etwas anderes denkbar?
    Genau das haben sie erreicht: Daß sogar noch die Utopien des westlichen Menschen in diesen Denkraum eingeschlossen bleiben. Daß wir nur immer mehr von dem wünschen können, was ist. Oder weniger. Oder Schöneres. Oder Vernünftigeres.
    Was denn sonst! rief ich.
    Eben, sagte Peter Gutman. Und dann wundern wir uns, daß unser stolzer Vernunftglaube in den schlimmsten Irrationalismus umschlägt. Dann bewegen wir uns immer weiter nur auf der einen Schiene, die wir »Fortschritt« nennen. Sagt mein Philosoph.
    Darum kommst du mit deinem Buch über ihn nicht zu Rande, sagte ich. Du stößt an Denkunmöglichkeiten.
    Mag schon sein, sagte Peter Gutman.
    Die Sonne ging unter, dazu mußte man schweigen.
    Wir verließen das Restaurant, wir fuhren im gläsernen Lift hinunter in die beginnende Dunkelheit in der Third Street, die sich mit Passanten, mit Artisten, mit Musikanten und Gauklern belebt hatte. Also ist jede Utopie lächerlich geworden? fragte ich.
    Das habe er nicht gesagt. Er befinde sich gerade in einem Streitgespräch mit seinem Philosophen über den Nutzen von Revolutionen. Revolutionen als die einzige Möglichkeit, eine Utopie zu verwirklichen.
    Ich sagte: Als die vielleicht wirksamste Möglichkeit, sich darüber zu täuschen, daß eine Utopie nicht zu verwirklichen ist.
    Sie müssen’s ja wissen, Madame, sagte Peter Gutman und wollte sich über das Thema nicht weiter äußern. Wir gingeneine Weile schweigend in dem Gewimmel der abendlichen Straße.
    Ob das Wort Revolution 1989 unter euch je gefallen ist, weiß ich nicht mehr, bezweifle es aber. Es wäre euch zu pathetisch vorgekommen. Das Wort, das die Leerstelle besetzte, das eingebürgert wurde, war unangemessen und hatte die Aufgabe, den Charakter der »Ereignisse« zu verschleiern: »Wende«. Was »wendete« sich denn? Und wohin? Was ihr erlebtet, war ein Volksaufstand, der sich die Form friedlicher Demonstrationen gab und das Unterste nach oben schleuderte. Falls das die Aufgabe von Revolutionen ist, war das eine. Wenn ich es recht bedachte, lief es strikt nach

Weitere Kostenlose Bücher