Stadt der Engel
als Lew mit ihr, die er verehrte, in einen ernsten Streit geriet über die Flugblätter Ilja Ehrenburgs, der die Sowjettruppen zum Haß gegen den faschistischen Feind aufgerufen hatte. Anna Seghers, die deutsche Kommunistin, der Ehrenburg in Paris geholfen hatte, als sie von ihren Landsleuten in Nazi-Uniformen verfolgt wurde, verteidigte ihn, während Lew, der ehemalige sowjetische Offizier, sein Verhalten nicht gutheißen wollte. Sie stritten sich erbittert, und am Ende umarmten sie sich heftig. Das war einer jener Augenblicke, deren zufällige Zeugin du warst und die dich mehr lehrten als manches dicke Buch.
»Und schuf mir einen Götzen – Lehrjahre eines Kommunisten« heißt das Buch seiner Trilogie, in dem Lew sich Rechenschaft gab über den Irrglauben seiner Jugend. Hattest du diesen Glauben nicht später geteilt? Du begriffst, nicht zuletzt durch ihn, daß schonungslose Selbsterkenntnis die Voraussetzung ist für das Recht, andere zu beurteilen.
Viele Bilder von ihm konnte ich mir heraufrufen. Wie er, ein großer Mensch, in den kleinen Zimmern seiner Moskauer Wohnung umhertigerte, die immer überfüllt war mit Besuchern, die bei ihm Rat und Unterstützung suchten, von denen einige ihn wohl auch bespitzelten. Wie er dem auf dem Boden stehendenTelefon einen Tritt versetzte: Du kleiner Verräter, du! Wie er voll Ingrimm mit euch durch Moskau ging, euch zu einem Maler mitnahm, der offiziell nicht ausstellen durfte – an dem Tag, an dem die reaktionäre Zeitschrift »Ogonjok« wieder einmal eine Kampagne gegen die Nächsten von Wladimir Majakowski lostrat, die noch lebten: Gegen Lilja Brik und ihren Mann. Alles Juden, sagte Lew, der selbst Jude war. Das kann schlimm werden. Das stachelt den Antisemitismus bei uns wieder an. Viel eher als wütend und haßerfüllt sahst du ihn betroffen und traurig.
Die Sowjetunion, die ihn und Raja, seine Frau, zu ihrem großen Kummer ausgebürgert hatte, gibt es nicht mehr, Lew hat sie um wenige Jahre überlebt. Ich stöbere ein wenig in ungeordneten Papieren. Tatsächlich: Das Exemplar der Zeitschrift »Ogonjok«, das ihr euch aus Moskau mitbrachtet, habe ich aufgehoben.
Kaum wüßte ich etwas, was ihn mehr charakterisieren würde als jener Anruf zwei Tage nach dem Fall der Mauer: Ich bin hier. – Wo bist du? – Na, bei euch. Kann ich euch sehen? Hingerissen von der Euphorie der Massen, die, obwohl die Grenzkontrollen noch nicht abgeschafft waren, zwischen Ost- und Westberlin hin- und herwogten, hatte er sich ohne Paß und Visum in eine Maschine gesetzt und war nach Berlin gekommen. Als die Grenzer ihn anhalten wollten, wurden sie lautstark von DDR-Passanten belehrt, wen sie da vor sich hatten: Sie wollten doch nicht den bekannten sowjetischen Schriftsteller Lew Kopelew aufhalten? Er durfte passieren, unter der Bedingung, daß er am selben Grenzübergang wieder »ausreiste«. Das erste, was er sehen wollte, waren die Gräber von Brecht und Anna Seghers. Für große Schriftsteller hegte er eine fast kindliche Verehrung.
Oder etwas später: Wie er vor seinem Auftritt in der Oper Unter den Linden stürzte, sich trotzdem zu seinem Platz auf der Bühne bringen ließ und seine Rede hielt, und wie sich dann herausstellte, daß er sich das Hüftgelenk gebrochen hatte. Wieer in seinem Bett in der Charité lag, ungeduldig, umgeben von Zeitungen, Briefen, Manuskripten, immer arbeitend, seine Mitarbeiter antreibend, sein Projekt über die deutsch-russischen Beziehungen vorantreibend, alle Antennen nach Moskau gerichtet, wo Verwandte und Freunde auf seine Hilfe angewiesen waren. In Rajas und Lews Küche in Köln versammelten sich alle, wenn sie für kurze Zeit oder für lange »im Westen« waren. Von ihrem Heimweh sprachen sie nicht.
Mein letztes Bild von Lew: Er sitzt in seinem Emigrationszimmer in Köln am Schreibtisch, ringsum an den Wänden die Fotos seiner Freunde und Familienangehörigen, ein Zimmer, das aus einem anderen Land und aus einer anderen Zeit in den Westen versetzt ist, wie sein Bewohner. Er hat seinen Platz zwischen den Fronten behauptet. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben. Die Zeit ist über Leute wie ihn hinweggegangen.
Sie geht über uns alle hinweg, dachte ich, die wir hier in einem typisch amerikanischen Haus sitzen, in einem typisch amerikanischen dining room ein sorgfältig zubereitetes amerikanisches Mahl zu uns nehmen, während doch für die meisten, die um den Tisch saßen, ganz andere Sitten ihre Vorstellung von einem Gastmahl geprägt hatten,
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