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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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verlassen, kam auf mich zu mit den gelösten geschmeidigen Bewegungen vieler Afroamerikaner, strahlte, schüttelte mir noch einmal die Hand, jetzt erst richtig, locker, locker, noch einmal umarmten wir uns, als sei die Umarmung der Maschinenmenschen nicht gültig gewesen, dann ließ er mich gehen, winkte mir nach. Und mir saß ein Schreck in den Gliedern über die Verwandlung der Kunstfigur in einen Menschen, als sei eben dies das Unnatürliche gewesen, als sei eben dabei eine Klammer zersprungen, eine Feder gebrochen, die ihn so lange gehalten hatten.
    Als hätte es dieses Anstoßes bedurft, fühlte ich, etwas war geschehen, Peter Gutman schien es mir anzumerken. Still und eilig gingen wir zum ms. victoria , verabschiedeten uns fast wortlos vor meiner Zimmertür. Ich setzte mich an den Tisch und schrieb wie unter Diktat, was ich heute, in den alten Aufzeichnungen blätternd, mit Erstaunen lese:

    im übrigen ist die zeit der klagen und anklagen vorbei, und auch über trauer und selbstanklage und scham muss man hinauskommen, um nicht immer nur von einem falschen bewusstsein ins andere zu fallen. »im wind klirren die fahnen« – welcher farbe auch immer. na und? dann klirren sie eben, aber warum haben wir es so spät gemerkt. wir müssen leben nach einem unsicheren inneren kompass und ohne passende moral, nur dürfen wir uns nicht länger selbst betrügen. ich sehe nicht, wie das ausgehen soll, wir graben in einem dunklen stollen, aber graben müssen wir halt.

    Ich ging an das Regal, in dem die Mappe mit den Briefen von L. lag. Ihr zweiter Brief an meine Freundin Emma war vom Januar 1947. Er begann mit Freudenausrufen darüber, daß Emma lebte und daß sie wieder in Verbindung gekommen waren.

    »Wenn auch«, schrieb sie weiter, «ein Brief niemals unsere Küchengespräche ersetzen kann, da wirst du mir zustimmen. Weißt du noch? Wir saßen am Küchentisch, die S-Bahn fuhr beinahe durch deine Stube, Stube und Küche, das war, was du bezahlen konntest, wir tranken Blümchenkaffee, du warst ja arbeitslos, die Ämter konnten sich eine Suchthelferin nicht mehr leisten, aber ich hielt mich noch als Assistenzärztin in der Armenklinik, in der wir uns kennengelernt hatten. Damals lernte ich auch meinen lieben Herrn kennen. Da wurde mein Leben mir kostbar. Und so ist es geblieben.
    So, nun habe ich alte Frau Dir das Wichtigste gesagt, daß ich verrückt bin wie als junges Ding, und ich seh Deinen erstaunt-spöttischen Gesichtsausdruck. Mein Abgesandter, der junge Korrespondent, hat Dir wohl erzählt, daß ich seit langem als Psychoanalytikerin arbeite.
    Und, da ich Deine Neugier kenne: Ja. Auch seine Frau, Dora ist noch da, sie leben zusammen wie eh und je. Lach nicht. Nein, zum Lachen ist es nicht.
    Während ich dies schreibe, steigt alles wieder in mir auf. Ich seh Dich. Weißt Du eigentlich, wie schön Du damals warst?«

    War Emma schön? Nicht, als ich sie kannte. Da hatte sie ihre Haftzeit im Gefängnis in dem mecklenburgischen Städtchen Bützow, das ich später ganz gut kennenlernte, gerade hinter sich. Ihre Gesichtszüge waren gleichzeitig scharf und erschöpft. Aber in dem größten Raum ihres skurrilen Lauben-Häuschens hing über einem altmodischen Sofa ein Bild, das ein befreundeter Maler, der später auch emigrieren mußte, gegen Ende der zwanziger Jahre von ihr gemalt und das auf abenteuerlichen Wegen die Hitlerzeit überstanden hatte: Eine reizvolle junge Frau, selbstbewußt, herausfordernd. Du darfst dir nie die Butter vom Brot nehmen lassen, Kind. Sie war manchmal unzufrieden mit mir, wollte mir meine Schuldgefühle austreiben.

    Sally rief an. Es gehe ihr unverändert. Ihre Therapeutin wolle ihr einreden, es sei normal, was ihr jetzt passiere. Normal! rief Sally. Wenn der engste Mensch dich verrät! Ich war versucht, sie zu fragen, ob sie glaube, Verrat sei das treffende Wort für das Aufhören der Liebe. Ob sie es vorziehen würde, daß Ron bei ihr bliebe, obwohl er sie nicht mehr liebe. Aber ich unterdrückte die Frage. Das war ja der Skandal, daß er sie nicht mehr liebte und daß niemand Schuld daran hatte. Daß sie seine Liebe nicht einklagen konnte.
    Und du? fragte Sally mich. Was treibst du. Hast du dich eingelebt? Wie ist deine Stimmung?
    Ohne es geplant zu haben, ohne es auch nur vorauszusehen, fragte ich sie plötzlich, was »Akten« auf Englisch hieß. Warum willst du das wissen? fragte Sally. Ich ignorierte die Frage und versuchte, sie durch Umschreibungen auf das richtige Wort zu bringen.

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