Stadt der Engel
Fragestellungen. Ich bin nicht absolut sicher – es ist nur ein Argwohn, aber ich will ihn aussprechen –, ob nicht heute Goethe’s Blick eher auf Rußland gerichtet wäre, als auf Amerika. Ich führe sogleich seine Mißbilligung des Despotismus dagegen ins Feld. Aber vor dem Phänomen Napoléon versagte bekanntlich dieser Widerwille, und wer weiß, wovor er heute versagen würde. Die Frage ist ja, wie das mitwirkende Sich verlieren in der geregelt tätigen Masse, das zuletzt, wenn nicht sein Ideal, so doch seine Vision war, sich anders abspielen soll als unter der Kontrolle des Staates und unter einem gewissen Despotismus. Sein heller Geist hat sich bestimmt keine Illusionen darüber gemacht, daß es unter den neuen sozialen Verhältnissen um die »staatsfreie Sphäre«, auf welcher der Liberalismus besteht, mehr und mehr geschehen sein werde, und ich würde mich nicht wundern, wenn schon die Frage ihn beschäftigt hätte, ob die Freiheit der Forschung undKunst nicht bei einem Staat, der selbst nicht mehr das Instrument des Privatinteresses wäre, besser aufgehoben wäre, als in der Abhängigkeit von eben diesem.
Wer stellt heute noch solche Fragen? Wer wagt sie auszusprechen?
Jetzt, mehr als anderthalb Jahrzehnte später, lese ich ähnliche Fragen in manchen Zeitungen, hervorgetrieben von einer KRISE, die eigentlich ein Zusammenbruch ist, auf den ich in einer ferneren Zukunft gefaßt war. Die Ursache für den Kollaps des Bankwesens, der Lebensader eines Wirtschaftssystems, das auf einmal sogar wieder »Kapitalismus« heißen darf, wird allerdings möglichst auf die psychologische Ebene geschoben: Die unersättliche Geldgier der Manager und Wirtschaftsbosse. Gestern hörte ich, eine neurologische Forschergruppe habe ein Gen entdeckt, das über ein kompliziertes Belohnungssystem im Gehirn die Gier nach Geld und Besitz antreibt, so daß der mit diesem Gen Behaftete kaum etwas gegen seinen wilden egoistischen Aktionismus tun kann. Die Lösung der Probleme, heißt es, wäre wohl eine Durchmischung des Personals in der Leitung bestimmter Unternehmen: von den Gier-Gen-Trägern mit anderen, mehr buchhalterisch Veranlagten.
Was hätten John und Judy zu den heutigen Verhältnissen gesagt, wenn sie sie damals vorausgeahnt hätten? Wir saßen wieder in dem Café in der 17th Street, wir hatten schon einen Stammtisch, wir kannten die Speisekarte und bestellten jeder seinen Lieblingssalat. Die sehr junge schwarze Kellnerin mit den blitzenden Augen kannte uns und lachte uns entgegen, das war angenehm.
John hatte mich abgeholt. Wir wollten mit Judy zu ihren Freunden fahren, die mich eingeladen hatten, meistens Angehörige der »second generation«. Die Diskussion über den Text von Thomas Mann müssen wir verschieben, sagte John. Ich sagte, beinahe genau so interessant wie dieser erstaunliche Text sei die Tatsache, daß er in die Endfassung des Goethe-Vortrags nicht aufgenommen wurde. Vielleicht tat er recht daran, sagteich, sich den voraussehbaren Anwürfen nicht auszusetzen. »Kommunismus« wäre das mindeste gewesen. Kannten John und Judy den Skandal um Thomas Manns Deutschlandtournee 1949? Nein. In Amerika sei der Kommunismus eine Leiche, toter als tot. Aber dicht unter der Oberfläche rege sich ein hysterischer Antikommunismus.
Sein wiedergefundener Cousin, sagte John, der in der Berliner Karl-Marx-Allee wohne, fange jetzt schon an, wieder nach dem Kommunismus zu fragen. Daß er den DDR-Kommunismus nicht meine, sei ja klar. Er meine den vernünftigen Kommunismus, den auch sie, John und Judy, meinten. Ach, ihr Lieben! sagte ich, und dachte, das ist ein weites Feld, und auf diesem Feld haben wir uns zuerst die Schuhsohlen und dann auch noch die Fußsohlen abgelaufen. Ich glaubte, besonders in Johns Augen noch jenen naiven Funken zu sehen, den wir alle einmal in den Augen gehabt haben müssen. Irgendwann würde er auch bei John erlöschen.
Unterwegs setzte Judy mir auseinander, daß nach ihrer Meinung die Nachkommen der ermordeten Juden und die Nachkommen der Deutschen, durch die oder in deren Beisein die Verbrechen geschahen, etwas Gemeinsames hätten: Ihre Eltern hätten mit ihnen nicht über die Vergangenheit gesprochen. Ich protestierte. Das sei doch etwas ganz anderes. Das sei doch genau das Entgegengesetzte: Ob man Verbrechen verschweige oder ob man zu seinen Kindern nicht über die Untaten und Demütigungen sprechen könne, die einem zugefügt worden seien. Die beiden blieben dabei, daß dieses inhaltlich so
Weitere Kostenlose Bücher