Stadt der Engel
scheinen sie sich zu ähneln: In dem Gefühl der Fremdheit, das sie in uns erzeugt haben. Denn, so kritisch wir in den Jahren davor dieser Gesellschaft gegenüberstanden, wir gehörten dazu, vielleicht gerade mit unserer radikalen Kritik gehörten wir dazu.
In dem Moment aber, als ich mit dem Zug im April 1933 die deutsch-französische Grenze überquerte, legte sich diese Fremdheit auf mich, die mich nie mehr verlassen hat, und ich entnehme Deinem Brief, daß es Dir genauso gegangen ist, als sich die Zuchthaustore hinter Dir schlossen. Wir waren draußen. Und wenn ich Deinen Brief recht gelesen habe – auch seinen Untertext, meine Liebe, der bei Dir ja oft der Haupttext ist –, so schüttelst auch Du die Fremdheit gegenüber Deinen Landsleuten, die Dich von sich absonderten und sich von Dir fernhielten, nicht mehr ab. Dies ist, das will ich Dir jetzt gestehen, einer der Gründe gewesen, warum ich nicht ‚nach Hause’ zurückgekommen bin: Ich wußte, daß ich unter diesen Menschen nie mehr zu Hause sein könnte.
Aber du kennst natürlich meinen anderen Grund: Ohne meinen lieben Herrn würde ich ja diesen Kontinent nicht verlassen können. Ihn würde ich niemals verlassen können. Was immer ich mir für Gründe dafür zusammensuche: Es ist, wie es ist.«
Tröstet dieser Brief mich, wie ich es erhofft hatte? In gewisser Weise. Mir kommt der Gedanke, daß Emmas Treue zu ihrer Partei, deren Fehler sie erkannte und rücksichtslos aussprach, mit dem Bedürfnis zusammenhing, sich wenigstens an einem Ort zu Hause zu fühlen, wenn schon alles andere ihr fremd geworden war. War auch ich ihr fremd geblieben?
MEINER EIGENEN FREMDHEIT NACHZUGEHEN
MEINER EIGENEN FREMDHEIT NACHZUGEHEN hatte ich lange vermieden, bis jetzt.
Ein Lied stieg in mir auf, aus einem Zyklus von Liedern, der dich in einem besonders düsteren Jahr begleitet hatte, viele Male am Tag hattest du die Platte aufgelegt. Mein Gedächtnis lieferte mir die erste Strophe aus, auch die Melodie dazu:
Fremd bin ich eingezogen
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe ,
Die Mutter gar von Eh’ –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.
Ein Freund hatte dir die Platte geschickt, er hatte herausgefühlt, was du brauchtest. In einem lakonischen Kommentar verglich er die Zeit, in der Schubert die Gedichte des Wilhelm Müller vertont hatte, die restaurative Zeit nach den Karlsbader Beschlüssen, die finsteren Jahre vor der achtundvierziger Revolution, mit der Restauration, in die ihr geraten wart, die euch in Depressionen stürzte. Er wollte dir sagen: Wir sind die ersten nicht! Aber das hattet ihr schon herausgefunden, in langen Spaziergängen in der Umgebung des Waldkrankenhauses, in demihr beide gegen eure psychosomatischen Beschwerden mit viel Wasser und mit viel Rohkost behandelt, vor allem aber »aus dem Verkehr gezogen« wurdet, wie der Chefarzt das nannte. Niemand wird sich heute vorstellen können, wie mühsam, in wie kleinen Gedankenschritten, gegen welchen inneren Widerstand und über wie lange Zeit hin ihr euch eure Einsichten erarbeiten mußtet. Immer noch erinnerst du dich an den Lichteinfall in der Tannenschonung, an der ihr gerade vorbeikamt, als dein Freund sagte: Also das wissen wir jetzt: Dieser Staat ist wie jeder Staat ein Herrschaftsinstrument. Und diese Ideologie ist wie jede Ideologie: Falsches Bewußtsein. Darüber können wir uns keine Illusionen mehr machen. Ihr bliebt stehen. Du fragtest: Was sollen wir tun. Ihr schwiegt lange, dann sagte der Freund: Anständig bleiben.
Ich schrieb:
wie vom ende her alles sich aufklärt. wie man, wenn man mitten drin steckt, durch keine anstrengung das muster erkennen kann, das unter den erscheinungen arbeitet. weil der blinde fleck das zentrum der einsicht und der erkenntnis überdeckt.
Ich lief los, zur Uferpromenade, blickte über den Pazifischen Ozean, in dem, weit hinter dem Horizont, die Japanischen Inseln schwammen, schaute lange einer schwarzen Großfamilie zu, die sich im Wasser vergnügte, wie die Frauen mit gerafften Röcken immer wieder in die sanften Wellen hineinliefen, vom begeisterten Geschrei der Kinder begleitet, konnte mich nicht satt sehen an einem vielleicht zehnjährigen Jungen, der sich vor Freude nicht zu lassen wußte, hüpfte und tanzte und dabei schrille Kreischtöne ausstieß. Das haben wir nicht, dachte ich, neidisch. Selbstbeherrschung ist auch eine Herrschaft, eben über das
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