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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Informationen seien gewiß einseitig, und ich wäre froh, wenn sie kämen. Aber einen direkten Rat wollte ich ihnen nicht geben. Ich wich aus.
    Ruth fuhr mich nach Hause. Ich spürte, daß sie reden wollte, und wußte nicht, ob ich hören wollte, was sie zu sagen hatte: Ruths Vater, deutscher Jude mit perfekten Französischkenntnissen, konnte 1933 mit der Familie ins Elsaß flüchten und sich dort als Franzose ausgeben. Als die Deutschen einmarschierten, hatten sie keinen Unterschlupf. Um wenigstens das Kind zu retten, gaben sie Ruth in ein Nonnenkloster, niemand vermutete in dem blonden Mädchen eine Jüdin. Da war sie monatelang ein von den Eltern ausgesetztes, verstecktes Kind. Und das blieb ich auch, sagte Ruth, während wir auf dem Freeway durch die niemals dunkle, niemals schlafende Stadt fuhren, ich blieb es, als die Eltern für uns alle einen Fluchtweg gefunden hatten und mich wieder abholten. Sie sei das versteckte Kind geblieben, bis heute. Ob ich mir das vorstellen könne. Zwar habe sie inzwischen aufgehört, ihrer Mutter Vorwürfe zu machen. Sie sage ihr auch nicht mehr, sie selbst, Ruth, hätte ihr Kind niemals weggegeben, unter keinen Umständen. Ich schwieg.
    Selbstverständlich, sagte Ruth, ihr Auto durch mir bekanntere Gegenden lenkend, selbstverständlich begreife sie ganz genau die tragische Lage, in der ihre Eltern damals waren. Mein Kopf versteht alles, you know, sagte sie. Aber in ihrem tiefsten Innern sei die Verletzung, welche die Verstoßung durch die Eltern ihr zugefügt habe, niemals geheilt, sie könne nicht vergessen und nicht verzeihen. Ihren Eltern nicht verzeihen, sagte Ruth, während die Tränen ihr über das Gesicht liefen. Sie klage sie an, anstatt die Deutschen zu verfluchen, die ihnen das angetan hätten. Es hätte nicht viel gefehlt, sagte Ruth, und sie wäre an der verkehrten Welt in ihrem Kopf verrückt geworden. Sie habe ihr eigenes Kind, ihren Sohn, zuerst nicht annehmen können. Ob ich ahnte, was das bedeutete. Erst eine lange Therapie,übrigens bei einer Emigrantin aus Deutschland, die ihre enge Freundin geworden, aber vor einigen Jahren leider gestorben sei, erst durch deren Hilfe habe sie verstehen gelernt, was da in ihr vorging. Nun sei sie selbst Psychologin.
    In meinem Apartment war meine erste Handlung ein Griff nach der roten Mappe. Noch nie, so kam es mir vor, hatte ich es wie heute bedauert, daß ich L. nicht kennengelernt hatte. Ich machte mir ein sehr genaues Bild von ihrem Äußeren, kühne Gesichtszüge, denen das Alter nicht viel anhaben konnte, ein grauer, nach hinten gekämmter Haarschopf, von Statur höchstens mittelgroß, nicht dünn und nicht dick, immer in Bewegung. Klassisch in gute Stoffe, in gedeckte Farben gekleidet, anders als Emma, die wenig Wert auf ihr Äußeres legte. Emma mußte sie in einem ihrer Briefe mit ihrer Vorliebe für gute Kleidung aufgezogen haben, sie mußte es ein »bürgerliches Relikt« genannt haben. L. erwiderte ihr in ihrem Brief vom Februar 1949 – dieser Monat fiel in meine Vorbereitungszeit zum Abitur in einer thüringischen Kleinstadt –, ob sie vergessen habe, daß ihr lieber Herr diese Art, sich zu kleiden, an Frauen schätzte.

    »Und warum hätte ich«, schrieb sie weiter, »ihm in dieser Kleinigkeit nicht entgegenkommen sollen, wo es doch anderes gab, worin ich mich ihm widersetzen mußte. Zum Beispiel ging ich während des Bürgerkriegs nach Spanien, obwohl mein lieber Herr strikt dagegen war – nicht, weil er den Kampf gegen Franco nicht für gut und richtig und unerläßlich befunden hätte. Nur eben ich sollte mich nicht in Gefahr begeben, fand er, ich sei nicht geschaffen für eine ›heldische Attitude‹.
    Den Bruch mit mir hat er nicht riskiert, ich ging als Korrespondentin nach Spanien. Er las dann natürlich gierig die Artikel, die ich schrieb, und sammelte sie sorgfältig. Später habe ich gesehen, daß er meine Berichte einarbeitete in seine Überlegungen über die Quellen des Inhumanen in unsererKultur, ein Thema, von dem er besessen war und das ihn immer mehr herunterzog in eine Hoffnungslosigkeit, die ich nicht mit ihm teilen konnte und wollte.
    Wir lebten übrigens sehr ärmlich in Paris, wie die meisten Emigranten, mein lieber Herr lebte, wie auch später oft, von der Arbeit seiner Frau, die eine Putzstelle bei einer reichen französischen Familie hatte, deren Söhnen sie auch Deutschunterricht gab. Dora ist eine bewundernswerte Frau, sie hat all die Jahre über nicht eine Minute geschwankt in der

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