Stadt der Engel
soll man dazu sagen.
Vielleicht können wir uns darauf einigen, daß rhetorische Fragen nicht beantwortet werden müssen.
Okay, okay. Wie du wohl weißt, werde ich demnächst dreiundfünfzig, sagte Peter Gutman.
Was wir hoffentlich mit einer guten Flasche kalifornischen Weines feiern werden.
Und ich hänge in der Luft wie ein Jüngling. Habe mir nichts aufgebaut. Keine Ehe. Keine Familie, die ich gerne hätte. Keine dauerhafte Beziehung zu einer Frau, nicht mal eine nennenswerte berufliche Karriere.
Einspruch, Euer Ehren.
Ach geh. Ja, ja! Seit zwanzig Jahren bin ich besessen von meinem Philosophen, durchleuchte noch seine abseitigsten Regungen, ein Mann, der seinerseits lauter Fragmente hinterlassen hat. Ich bitte dich, man muß Herrn Freud nicht kennen, um dieses unstillbare Bedürfnis, mich durch einen anderen auszudrücken, einen anderen vor mich zu schieben, neurotisch zu finden. Einen, der mich erdrückt. Der sich in mich eingefressen hat, wie ich mich in ihn eingefressen habe, unauflöslich sind wir ineinander verstrickt. Ich kann ihn nicht loswerden, und er hindert mich perverserweise, das Buch über ihn, in dem ich mich verewigen und begraben will, zu Ende zu bringen.
Wodurch. Wodurch hindert er dich.
Hab ich mich lange gefragt. Ich glaube, er hindert mich durch seine Vollkommenheit. Denn daß er nur Fragmente hinterlassen hat, ist genau ein Zeichen für seine Sucht nach Vollkommenheit. Er hätte einen vollständigen Text, der ein vollständiges Weltbild voraussetzt, als Lüge empfunden. Nichtswar ihm gräßlicher. Und: Wie käme ich dazu, über ihn, der seine Gedanken und Einsichten nie in ein System gebracht hat, der selbst zu seinen Lebzeiten nie ein Buch veröffentlicht hat, meinerseits ein Buch zu schreiben? Wäre das nicht Anmaßung? Noch dazu, wo sein Grundgedanke ist: Diese unsere Kultur wird sich von ihrem tiefsten Fall nicht mehr erholen. Wir leben also in einer Endzeit.
Das war das erste Mal, daß Peter Gutman ausführlich von seinem Philosophen sprach.
An jenem Abend fragte ich ihn noch, ob er denn nie eine tiefe Beziehung zu einer Frau gehabt habe.
O doch, sagte er. Gerade jetzt habe er die tiefste Beziehung zu einer Frau. Aber auch die aussichtsloseste, das hätten sie beide von Anfang an gewußt. Nie würde sie ihren Mann und ihre Kinder verlassen. Und sie hätten gerade vor zwei Wochen beschlossen, nicht mehr miteinander zu telefonieren. Und jetzt sei er in der schlimmsten Depression, habe furchtbare Angstzustände und wache jeden Morgen mit einem Gefühl des Entsetzens auf.
Man hat dir nichts angemerkt, sagte ich.
Darin habe ich ja Übung von klein auf, mir nichts anmerken zu lassen. Und jetzt: Gute Nacht, Madame. Grübeln Sie nicht. Ein guter Rat von einem Profi im Grübeln.
Er ging. Ich weinte. Von den Gründen für meine Tränen würde er nichts wissen wollen. Jeder, der in seine Nähe kam und in seiner Nähe bleiben wollte, muß sich an ein unausgesprochenes Übereinkommen halten: Das understatement nicht aufbrechen. Mir wurde klar, daß ich diese Bedingung bisher unwillkürlich erfüllt hatte. Das sollte so nicht weitergehen. Ich mußte, nahm ich mir vor, ganz vorsichtig, sogar liebevoll, an dem Panzer kratzen, den er über die Jahre hin planvoll um sich hatte wachsen lassen. Man dachte, man habe den Mann vor sich, dabei war es der Panzer.Ich nahm die Tagebücher von Thomas Mann zur Hand. Seit ich mit einer Gruppe unserer Scholars zu seinem Haus hochgefahren war, Pacific Palisades, 1550 San Remo Drive, wo wir uns am Eingang herumgedrückt hatten, an dem übrigens keine Tafel an den berühmten ersten Bewohner dieses Hauses erinnerte. Seit ich seinen Nachmittagsspaziergang hinunter zum Ocean Park nachgegangen war, las ich die Tagebücher mit noch stärkerem Interesse. Fand die Stelle, die er zu seiner Goetherede 1949 notiert hatte:
Und doch wiederum, nimmt man gewisse intime Bekenntnisse hinzu, wie die Briefstelle an Frau von Stein zur Zeit der Winterreise in den Harz: »Wie sehr ich wieder auf diesem dunklen Zug Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiß vor Gott die höchste ist«; … nimmt man ferner hinzu, daß er in »Hermann und Dorothea« von der begeisternden Freiheit und von der höheren – »der höheren«! – Gleichheit spricht, und daß er sich noch kurz vor dem Ende seines Lebens mit den Theorien des französischen Sozialisten Saint Simon objektiv vertraut machte, – so gelangt man zu sonderbaren
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