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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Überzeugung, daß es ihre Aufgabe sei, diesen Mann am Leben zu halten. Und sie hat all die Jahre über nicht eine Spur kleinlicher Eifersucht gezeigt gegenüber unserem Verhältnis. Mein lieber Herr ist fest an Dora gebunden, er würde sie niemals verlassen, und ich würde das niemals von ihm erwarten.«

    Es war einer der längsten Briefe, die L. an Emma schrieb, mit blasser Schreibmaschinenschrift auf weißem Papier in amerikanischem Format, etwas weniger flüchtig, schien mir, als viele ihrer anderen Briefe. Nicht zum ersten Mal versuchte nun ich, an dem langen Eßtisch in meinem kalifornischen Apartment, zwischen den Zeilen dieser Frau zu lesen, versuchte den Kummer, die Selbstverleugnung, den andauernden Verzicht herauszulesen, welche die Liebe ihr auch auferlegt haben mußte. Und ich versuchte mir den Inhalt ihrer über die Jahrzehnte andauernden Gespräche mit ihrem »lieben Herrn« vorzustellen.
    Und ich? War ich, kaum zwanzigjährig, nicht schon einer Überzeugung sicher gewesen, die ich gerade erst einigen Schriften der Klassiker entnommen hatte? Selbstverständlich mußte sie lauten: DIE REVOLUTION. Die Revolution war das einzige Mittel zur Rettung der Menschheit. Euer Mathematik- und Physiklehrer, Flüchtling aus dem Osten, in der thüringischen Kleinstadt gestrandet wie du, ein überaus intelligenter, etwas undurchsichtiger, aber eben deshalb für dich besonders faszinierender Mann, der von der übrigen verkalkten Lehrerschaftabstach, hatte dir diese revolutionären Schriften empfohlen, hatte nicht ohne Wohlgefallen bemerkt, wie es dir einleuchtete, daß die Welt nicht immer nur interpretiert, sondern daß sie von Grund auf verändert werden mußte, und er hatte ohne zu zögern die Bürgschaft übernommen, als du dich entschlossest, der Partei beizutreten, die eben diese Veränderung ja in ihrem Programm hatte. Und, um diese Geschichte zu einer typischen Geschichte jener frühen Jahre zu machen: Später sollte sich herausstellen, daß dieser Lehrer, der wegen seiner unbestreitbaren Fähigkeiten inzwischen zum Schulleiter aufgestiegen war, ein Mitarbeiter des Goebbels-Ministeriums gewesen war und das verschwiegen hatte, so daß er degradiert und an eine kleine Landschule versetzt wurde. Du aber, so sehr dich diese Nachricht traf, nahmst keinen Augenblick an, daß er euch, daß er dich betrogen hatte, indem er selbst an die Lehren nicht glaubte, die er dir anempfahl, oder daß er etwa an die Wahnsinnslehren seiner ehemaligen Dienstherren geglaubt hatte. Er war zu klug dazu, dachtest du.
    Ich blätterte in Thomas Manns Tagebüchern, fand die Eintragung, die ich suchte, vom 31. März 1949, nahe dem Datum des Briefes von L.: Nachmittags einstündige Rede Churchills in Boston, peinlich durch Unwahrheit, grobe Schmeicheleien für Amerikas hohen Opfersinn, Verherrlichung des Cold War, banale Russenhetze … Das Ganze deprimierend, wenn auch ganz wie es sein mußte.
    Ich fragte mich, ob du im Frühjahr 1949 den Begriff »Kalter Krieg« schon gehört hattest, ich erinnerte mich nicht. Du saßest nachts in deinem Souterrainzimmer, dessen Fenster dir den Blick auf den schiefen Kirchturm des Städtchens und auf den überwältigenden Sternenhimmel erlaubte, über einem Aufsatz zu einem Wettbewerb: »Revolutionen – Notwendigkeit oder Exzesse der Geschichte?«, du plädiertest für »Notwendigkeit«, gewannst einen Preis und durftest zu den Goethetagen der Jugend nach Weimar fahren, wo du Lothar Müthel als Mephisto sahst und den künftigen Ministerpräsidenten Grotewohl redenhörtest, unter dem Motto: Du mußt steigen oder sinken / Leiden oder triumphieren / Amboß oder Hammer sein.
    Jena. Die alte Universität, aus deren Hörsälen ihr auf die Wege blicken konntet, auf denen Goethe und Schiller miteinander gewandelt sein mochten. Von den Gedankengebäuden dieser beiden leiteten eure Dozenten die Linien ab, die bis zu euch hin führten: Fortschritt und Reaktion, sie haben sich immer gegenübergestanden, kämpfend. Du siehst dich mit den anderen im Viereck um den Tisch in dem Seminarraum sitzen, der von Bücherwänden umstellt war, hörst den jungen Dozenten begeistert von Georg Lukács sprechen, dessen Theorien euch einleuchteten, es ging um den Realismus, um was denn sonst, begeistert saugtet ihr seine Thesen auf, konntet euch nicht vorstellen, wie man Literatur anders beurteilen sollte.
    In den Nächten last ihr beide Remarques »Arc de Triomphe« – ausgerechnet dieses war das erste der hunderte von Büchern,

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