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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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unähnliche Verschweigen ähnliche Muster in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern erzeugen könne.
    Wir fuhren durch gepflegte Viertel, in denen ich noch nicht gewesen war, hielten vor einem middle-class-Haus in einer Nebenstraße, stiegen eine kurze Außentreppe hinauf und kamen in eine Wohnung, in der alle Lampen brannten, die möbliert war wie die Wohnung eines westdeutschen Rechtsanwalts oder Gymnasialdirektors, in der sich Menschen verschiedenenAlters in den Räumen drängten. Eine zierliche blonde Frau, Mitte fünfzig, die Gastgeberin, trat auf uns zu und sagte auf deutsch: Ich bin Ruth. Willkommen. Und fügte auf englisch hinzu: I was a hidden child.
    Der Satz traf mich. Ich verstand sofort, was er bedeutete: Ein Kind, das vor den Deutschen versteckt worden war. Es war eine der vielen trostlosen Geschichten, die ich noch zu hören kriegen würde. Wenn ich an den Abend zurückdenke, sehe ich diesen und jenen an mich herantreten, sein Glas in der Hand, und leise mit mir sprechen. Nicht nur einmal erblickte ich in den Augen der Menschen eine absurde Hoffnung, als könne doch noch ein Wunder geschehen, und der Abgrund, in den ihr Leben gestoßen worden war, könne sich schließen, der unaufhörliche Schmerz könne wenigstens gemildert werden, wenn jemand diesen Schmerz mit ihnen teilte. Nein, nicht irgend jemand: eine Deutsche. Die meisten von ihnen waren nie in Deutschland gewesen, die Älteren nie wieder hingefahren. Ich schwieg. Da war nichts zu sagen, nichts zu erklären, nichts wiedergutzumachen. Da konnte nichts wieder »gut« werden.
    What about Germany today? Die Frage mußte kommen. Ich erinnere mich, daß ich mich, innerlich auf diese Frage gefaßt, um Objektivität bemühte. Der Fall der Mauer. Ja. Ein historisches Ereignis, das, ich zögerte, das zuzugeben, von den Demonstranten nicht erwartet und nicht beabsichtigt war. Ich zitierte Inschriften von Transparenten, die inzwischen schon verwelkt waren: Die Euphorie der Übergangszeit. Ich wollte die Menschen hier nicht enttäuschen, die erwarteten, daß im vereinten Deutschland jedermann glücklich sein müsse. Nein, von Enttäuschungen stand nichts in ihren Zeitungen. Nichts von Verlusten. Es wäre mir kleinlich vorgekommen, hier davon zu sprechen.
    Aber da war ein Rechtsanwalt, der anscheinend deutsche Mandanten hatte. Er wußte, daß Tausende ehemaliger Besitzer, die inzwischen sehr lange schon in Westdeutschland lebten undeine gewisse Entschädigung für ihre Verluste erhalten hatten, ihre Grundstücke und Häuser zurückverlangten, wo oft seit Jahrzehnten Ostdeutsche wohnten, in gutem Glauben, sie hätten sie rechtmäßig gekauft oder würden sie rechtmäßig nutzen. Das stimmt, sagte ich und mußte den Grundsatz: Rückgabe vor Entschädigung! ins Spiel bringen. John geriet außer sich. Darüber wisse man hier gar nichts. Stell dir das bloß mal in einem anderen Land vor! Ich versuchte zu erklären, daß die ehemaligen Besitzer und deren Erben mit dem besten Gewissen von der Welt auf ihrem Anspruch bestünden, weil Eigentum und Besitz für sie zu den höchsten anzustrebenden Werten gehörten.
    Und ihr? fragte jemand. Die Ostdeutschen? Ich sagte, denen sei es abgewöhnt worden, privaten Besitz für so heilig zu halten, und auch wenn sie den früheren Staat abgelehnt hätten, neigten viele Ostdeutsche der Meinung zu: Gemeinwohl komme vor Profit.
    Leiser sagte ich zu John, in diesem unterschiedlichen Verhältnis zum Besitz liege wohl der Kern der vielbeschworenen Spaltung in den Köpfen. John sagte: Da seht also nicht nur ihr euch in Frage gestellt, auch die Westdeutschen müssen sich durch eure Art zu denken angegriffen fühlen. Das fand ich bedenkenswert.
    Wirklich wichtig war für die Gäste dieses Abends etwas anderes: Man sehe und höre von rechten Gewalttaten gegen Asylanten, besonders im Osten Deutschlands. Das sollte ich ihnen erklären. Halbherzig und weitschweifig versuchte ich die Umstände anzuführen, aus denen solche Gewalttaten erwüchsen. Ich merkte, daß ich niemanden überzeugen konnte.
    Am Ende des Abends kamen zwei junge Leute zu mir, ein Paar, er Deutscher, sie amerikanische Jüdin. Sie wollten einen Rat. Sie hätten gerade nach Deutschland übersiedeln wollen, wo er einen guten Job als Chemiker in Aussicht habe. Doch nun fragten sie sich, ob sie es verantworten könnten, ihr Kind in dieses Land zu bringen. Ich erschrak. Kam ich denn auseinem barbarischen Land, in das man keine Kinder bringen durfte? Ich sagte, ihre

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