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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Selbst.
    Vom Santa Monica Pier aus hatte ich den vollkommen geformten Bogen der Malibu-Bucht vor mir, das zartgrünegeruchlose Meer mit seinem weißen Schaumrand, den ockerfarbenen Sand, die weiße Häuserreihe im Vordergrund, die dunkelgrünen Hügel weiter hinten, und schließlich, farblich sorgfältig davon abgesetzt, gestochen scharf die bräunliche Bergkette im Hintergrund. Und darüber unglaubhaft makellos blau der Himmel.
    Es schmerzte. Alles schmerzte, so weit war es mal wieder. Angstvoll, allein, erlebte ich abends im Fernsehen den Absturz der israelischen Maschine in zwei Amsterdamer Hochhäuser. Peter Gutman klopfte an, er hatte es auch gesehen. Reden wollten wir nicht, zusammen sahen wir einen Film über einen bedeutenden englischen Kunstwissenschaftler, Peter Gutman kannte ihn und erfuhr nun, daß der lange Zeit ein sowjetischer Spion gewesen war, ein Homosexueller übrigens, den sogar Ihre Majestät die Königin einmal eines Gesprächs gewürdigt hatte, in dem es um Anstand und Moral gegangen war und in dem der Wissenschaftler bewundernswerte und bewegende Formulierungen gefunden hatte, bewegend für den, der seine Lage kannte, aber dann wurde er natürlich enttarnt, gestand alles, man versprach, ihn zu schonen, gab ihn aber doch, entgegen der Verabredung, der beutegierigen Öffentlichkeit preis und zerstörte sein Leben – soweit er es, der Einspruch war berechtigt, nicht schon selbst zerstört hatte. Kaum erträglich war es, mit anzusehen, wie er schließlich auf dem Bildschirm erschien, ein alter gebrochener Mann. Wie er sich zu den zudringlichen Fragen äußern mußte, mit denen man ihn bedrängte.
    Nichts für mein Gemüt, sagte ich und stellte den Fernseher aus. Übrigens denke ich das in letzter Zeit etwas zu oft, sagte ich zu Peter Gutman, und bin mir bewußt, daß ich gerade wieder in einer solchen Phase bin, oder die Zeit ist wieder in eine solche Phase geraten, oder die Brutalität der Zeit und mein schwaches Gemüt stoßen gerade mal wieder zusammen, und ich drücke den Aus-Knopf beim Fernseher oder blicke weg, wenn riesige Menschenmengen im Namen Allahs ihre Verwünschungen gegen uns, die Weißen, ausstoßen oder wenn Männerin weißen Schutzanzügen am Ostseestrand tote Vögel aufsammeln. Und daß manches, nein: vieles von dem vorauszusehen gewesen ist, tröstet mich nicht. Ob ich noch genau weiß, was richtig und was falsch, was gut und böse ist? Da ich mich dabei ertappe, daß ich für die falschen Leute Mitgefühl empfinde, wenn ich sie als die Verlierer sehe.
    Besser als überhaupt kein Mitgefühl, sagte Peter Gutman. Übrigens: Wer ist hier der Christ? Für wen gilt der Spruch: Schlägt dich einer auf die rechte Backe, halte ihm die linke hin? Du bewegst dich im Innersten eures Wertesystems, Madame. Vergiß das nicht.
    Und du: Auge um Auge, Zahn um Zahn?
    Bei uns zu Hause gab es keine Bibel. In welcher Sprache auch. Wir waren drei Brüder. Meine Eltern haben uns wenig verboten und fast nichts befohlen, außer Verhaltensregeln, damit wir uns auf der Straße nicht als Deutsche verrieten. Und wenn die Jungen in der Schule mich als Nazi beschimpften, habe ich mir zu Hause nichts anmerken lassen. Es galt als oberstes Prinzip: Die Mutter schonen. Und mein Vater? Der hat so gut wie gar nicht gesprochen, seit er im Exil war. Abends kam er von seiner schweren schlecht bezahlten Fabrikarbeit nach Hause, dann wurde gegessen, ziemlich karg, übrigens. Dann wurde der Tisch abgeräumt, und mein Vater breitete seine Bücher darauf aus und machte sich an seine Ausarbeitungen über deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat nie eine Zeile veröffentlicht. Ich glaube, es konnte keinen Menschen geben, der mehr daran hing, Deutscher zu sein, und der tiefer enttäuscht und verletzt und verbittert war, als die Deutschen ihn ausstießen. Ich war noch nicht auf der Welt, als die Familie sich, ärmlich genug, in einem fremden Land zurechtfinden mußte, und wie willkommen den Eltern, unter diesen Umständen, nach Kriegsbeginn, ein drittes Kind sein mußte, das kannst du dir wohl vorstellen.
    Wir schwiegen. Dann sagte ich: Kennst du das: Ein Tonband im Kopf, das Tag und Nacht läuft?
    Ach du lieber Himmel, sagte Peter Gutman. Dafür bin ich doch Experte. Wenn du wüßtest, was mir Tag und Nacht wie ein Mühlrad im Kopf herumgeht.
    Was denn, Monsieur? Wenn man fragen darf.
    Na, immer dasselbe. Daß ich Jahr um Jahr nichts anderes zustande bringe, als mir systematisch mein Leben zu verpfuschen. Was

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