Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
man eine Beschwörung bewerkstelligte. Jemand hatte es mir vor langer Zeit gezeigt, vor so langer Zeit, dass ich gar nicht mehr wusste, wann und wer das gewesen war, und ich hatte ein paar Beschwörungen mit angesehen. Ich hatte so etwas bloß noch nie selbst gemacht.
Andrea setzte sich ins Gras. Raphael ließ sich neben ihr nieder.
Ich goss Wasser in die Schüssel, löste meinen Gürtel und streute die Kräuterpulver hinein, die ich bei mir trug: Waldfrauenfarn und Esche für die Hellseherei und dann auch noch eine Prise Wermut gegen die Einmischungen irgendwelcher neugieriger Wesen. Ein wenig Eiche – ein männlicher Bezug. Statt eines Pulvers verwendete ich hier nur ein paar zerrissene Eichenblätter, die anschließend auf der Wasseroberfläche trieben.
Ich hatte meinen Spinnköder nicht dabei, aber einige Wochen zuvor war ich auf einen sehr schönen Stab aus Europäischer oder Gemeiner Esche gestoßen und hatte ihn sofort verunstaltet, indem ich ein paar Splitter herausgeschnitten und mir in die Gürteltaschen gesteckt hatte. Diese Europäische Esche war eins der besten Hölzer, wenn es darum ging, einen Zauber festzuhalten. Ich warf einen Eschensplitter ins Wasser und murmelte den Zauberspruch.
Der improvisierte Spinnköder begann zu zittern. Er bewegte sich, als würde ein Fisch am Köder knabbern, und drehte sich auf der Stelle, erst langsam, dann immer schneller.
»Was geschieht da?«
»Er verbindet die Kräuter mit Magie.« Ich zog mein Wurfmesser und gab es ihr. »Wenn irgendwas schiefgeht, lässt du das Messer in die Schüssel fallen. Bitte versuch nicht, die Schüssel auszuschütten oder den Köder herauszunehmen.«
»Woran merke ich, dass etwas schiefgeht?«
»Daran, dass ich anfange zu schreien.«
Ich nahm den Handgelenkschoner ab, den ich am linken Arm trug. Adieu, Silbernadeln. Dann das zweite Wurfmesser, die drei Haifischzähne, das Wiederherstellungsse t …
»Was hast du denn noch alles dabei?«, fragte Raphael und machte große Augen.
Ich zuckte die Achseln. »Das wär’s so ziemlich.«
Ich trat in den Schatten der Eiche. Ich trug nun nur noch ein T-Shirt und eine Hose – keinen Gürtel mehr, kein Schwert, kein Messer. Bis auf das Blutentnahmeröhrchen und den kleinen Strickflicken aus Nessel und Haar hatte ich weiter nichts mehr bei mir. Ich stellte mir im Schatten der Eiche einen großen Kreis vor und warf den Flicken in die Mitte.
Dann ging ich an dem imaginären Kreisrand entlang und fing an zu tanzen.
Schritt für Schritt ging ich einmal um den Kreis herum, bog meinen Körper, folgte dem Tanz. Während der zweiten Umrundung ging von dem Flicken eine straff gespannte Linie der Magie aus und griff nach mir. Die Magie floss mir vom Kopf bis in die Füße, verteilte sich dort, wo meine Füße den Boden berührten, in kleinere Strömungen, so als wäre ich zu einem Baum geworden. Sie führte mich und zog mich.
Vage nahm ich wahr, dass die Boudas aus der Dunkelheit herbeitraten, von mir angezogen wie Motten vom Licht. Sie sahen mir mit glühend roten Augen zu, bewegten sich dabei sacht zur lautlosen Musik meines Tanzes. Dann hörte ich sie – eine schlichte Melodie in der Ferne. Sie schwoll mit jeder Sekunde weiter an, herzzerreißend, traurig und wild, rein, aber auch unvollkommen. Sie ergriff mich, schlich sich in meine Brust, erfüllte mein Herz mit dem, was mein russischer Vater toska genannt hatte, ein Verlangen, das so innig war, dass es einem körperliche Schmerzen bereiten konnte. Mir wurden die Knie weich davon; es saugte mir den Willen aus, bis nur noch Melancholie zurückblieb; es ließ mich etwas schmerzlich vermissen, ohne dass ich recht gewusst hätte, was es war. Ich wusste nur, dass es mir schrecklich fehlte und dass ich keinen Moment mehr in seiner Abwesenheit weiterleben wollte.
Ich tanzte und tanzte und tanzte. Die angelockten Boudas traten in den Hintergrund. Nebelschwaden umwirbelten mich. Ein dunkler Hund trottete vorüber. Langsam lichtete sich der Nebel wieder. Und durch den Nebelrest sah ich ein sanftes gelbes Licht mich locken.
Meine Füße berührten Gras und Stein. Ich hörte das leise Knacken und Knistern von brennendem Holz. Ich roch scharfen, salzigen Rauch.
Ein paar Schritte noch, und ich stand am Ufer eines Sees. Er lag glattschwarz im Mondschein da, wie die Oberfläche einer in Teer getauchten Münze. Nah am Wasser brannte ein kleines Lagerfeuer. Und über dem Feuer briet an einem Spieß ein kleines Tier, vielleicht ein Kaninchen.
Ich wandte
Weitere Kostenlose Bücher